Als der Erste Weltkrieg sich dem Ende zuneigte, hofften gar einige Offiziere auf Aufstände und Unruhen in der Schweiz. Nicht, weil sie die protestierende Arbeiterschaft unterstützt hätten, sondern weil die Unruhen niederzuschlagen ihnen erlaubt hätte, ihren angeknackten Ruf reinzuwaschen und zum Schluss der ereignisarmen Grenzbesetzung doch noch etwas zu erleben. Zu diesem Schluss kommt die Dissertation. Sie untersucht, welche Erfahrungen Deutschschweizer Offiziere während des Militärdienstes im Ersten Weltkrieg gemacht haben. Rund sechshundert Tage hatten sie während des Ersten Weltkrieges jeweils Dienst geleistet, in Ablösungsdiensten verteilt über die Jahre 1914 bis 1919. Sie wurden zur Abwehr von allfälligen Angriffen, später auch zur Bekämpfung von Schmuggel an der Grenze und – je länger, je mehr – für Ordnungsdienste im Landesinnern eingesetzt. Wache an der Grenze blieb dabei die Ausnahme, Ausbildung dahinter die Regel. Innenpolitische Spannungen und zunehmende Dienstverdrossenheit der Soldaten prägten die Zeit; hinzu kamen Affären um die Armee, Bestrebungen um deren Demokratisierung sowie grundsätzliche Kritik am Militär vonseiten der Politik. Wie die Armeeangehörigen die sogenannte Grenzbesetzung erfahren haben, ist noch wenig erforscht. Hier hat die Geschichtsschreibung in der Schweiz kultur- und erfahrungsgeschichtliche Impulse der vergangenen fünfzig Jahre aus dem Ausland erst mit Verzögerung und lückenhaft rezipiert.
Die Untersuchung stützt sich primär auf bisher kaum beachtete Briefe und Tagebücher von 23 Offizieren aus einem Dutzend Archive, ausserdem auf militärische Dokumente, meist Truppentagebücher, Berichte oder Befehle. Theoretisch orientiert sie sich an Überlegungen des Tübinger Sonderforschungsbereichs 437 „Kriegserfahrungen‟. Methodisch lehnt sich an die Vorarbeiten Klaus Latzels und Martin Humburgs an, kombiniert qualitative mit quantitativer Auswertung und betrachtet die Erfahrung des Aktivdienstes vor dem Hintergrund der Erfahrung des Krieges, der Schweiz, der Armee, der jeweiligen Umgebung und des Zivillebens der Offiziere.
Zwei Bedürfnisse, so die Ergebnisse der Arbeit, prägten die Erfahrung der Offiziere. Das erste war, etwas zu erleben. Die sogenannte Erlebnisorientierung nach Peter-Paul Bänziger, das heisst das Streben des Einzelnen nach intensivem Erleben, nach Spass, Glück und Genuss sowohl in der Freizeit als auch bei der Arbeit, zeigte sich auch in der Erfahrung des Aktivdienstes. Das zweite war, sich zu bewähren und gegenüber Dritten auszuzeichnen. Das ging einher mit dem Bedürfnis nach Abgrenzung nach unten und sozialem Aufstieg. Das waren dieselben Motive, weshalb gemäss Rudolf Jaun Angehörige des akademisch gebildeten, urbanen Mittelstandes, aus dem sich das schweizerische Offizierskorps ab 1900 hauptsächlich rekrutierte, eine Offizierslaufbahn einschlugen.
Die Erfahrung des Aktivdienstes war stark abhängig von zeitlichen, örtlichen und funktionalen Faktoren. Sie lässt sich, abhängig von der Bedrohungslage und damit vom Zeitpunkt, in drei Phasen unterteilen:
Die erste Phase im August 1914 war von Unsicherheit geprägt. Im nahen Elsass wurde gekämpft, in der Schweiz fürchtete man den Durchmarsch fremder Truppen. Das Gros der untersuchten Offiziere lehnte den Krieg als schrecklich und zerstörerisch ab, er bedrohe die Schweiz. Die Armee konnte ihre Kriegstüchtigkeit nach aussen demonstrieren und so einen möglichen Angreifer abschrecken. Auch gegenüber Politik und Bevölkerung konnte die Armee, die vor dem Ersten Weltkrieg teils heftige Kritik erfahren hatte, ihre Kriegstüchtigkeit zeigen. Mit dem Schutz der Schweiz war der Aktivdienst in den Augen der Offiziere vorerst sinnvoll. In die Besorgnis mischte sich Begeisterung, fürs Vaterland ins Feld zu ziehen. Das Verlangen nach Bewährung zeigte sich hier ein erstes Mal. Der zuhause gebliebenen Bevölkerung fiel die Rolle zu, die Armee zu unterstützen, zu bejubeln und zu beklatschen. Hier zeigten sich zugleich militaristische Vorstellungen und ein Denken in dualistischen Geschlechterrollen: Das (männlichere) Militär war der (weiblicheren) Zivilbevölkerung übergeordnet.
In einer zweiten Phase der Sicherheit und Konstanz ab Herbst 1914 verlor der Krieg für die untersuchten Offiziere an Bedeutung. Sie sahen in ihm kaum noch eine militärische Bedrohung für die Schweiz. Sie verurteilten ihn zwar weiterhin, deuteten jedoch Kämpfe, die sie sahen und sehen wollten, zur erlebnisreichen Unterhaltung und bisweilen zur Bewährungsprobe um. Die Erlebnisse und Erfahrungen der Deutschschweizer Offiziere, die den Krieg aus sicherer Warte mitansahen, unterschieden sich somit stark von solchen, die Soldaten an der Front machten. Die Schweiz erfuhren die untersuchten Offiziere nun als „Insel der unsicheren Geborgenheit‟ (Georg Kreis), die sich zunehmend wirtschaftlichen und innenpolitischen statt militärischen Herausforderungen gegenübersah. Hier wandelte sich die Erfahrung der Bevölkerung stark: Sie zeigte sich zunehmend renitent, teils gar feindselig gegenüber der Armee. Diese war in zahlreiche Affären verwickelt. Für Kritik aus der Bevölkerung zeigten die untersuchen Offiziere kaum Verständnis, glaubten ausländische Hetzer am Werk und verlangten hartes Durchgreifen. Sie suchten den Feind nun vermehrt diesseits statt jenseits der Grenzen – ein Muster, das sich im Landesstreik erneut zeigen sollte.
Die Erfahrung des Dienstes wandelte sich ab Herbst 1914 in zweierlei Hinsicht ebenso: Erstens gelang die Sinnstiftung des Dienstes angesichts der nachlassenden militärischen Bedrohung nur noch wenigen Offizieren. Zweitens widersprach der erfahrene Ablösungsdienst, der meist aus Ausbildung im Hinterland bestand, den Erwartungen der Offiziere: Er entbehrte der erhofften Erlebnisse und der Möglichkeit, sich zu bewähren, war langweilig und vom bekannten Wiederholungskurs primär in seiner Dauer zu unterscheiden. Die beiden noch kaum befriedigten Bedürfnisse, etwas zu erleben und sich zu bewähren, traten in dieser Phase stärker hervor. Die Offiziere beurteilten den Dienst danach, ob er interessant war oder nicht; unter welchen Umständen Dienst geleistet wurde, gewann ebenso an Bedeutung. Das wie war damit wichtiger geworden als das wieso. Das Beobachten grenznaher Kämpfe bot ebenso aussergewöhnliche Erlebnisse wie Märsche durch als schön erfahrene, unbekannte Gegenden; der Dienst der Offiziere verkam damit zur Tour de Suisse. Märsche und gelegentliche Manöver ermöglichten, sich zu bewähren und sich der eigenen Kriegstauglichkeit zu versichern. Das zeigte sich gerade darin, dass sichdieOffizieremitanderenOffizierenbzw.ihre eigene Truppe mit anderen Truppen verglichen. Aus Kameraden waren bisweilen Konkurrenten geworden. Die disziplinierten, gehorsamen Unterstellten wandelten sich dabei zum Fleisch gewordenen Leistungsausweis des schneidigen Offiziers. Kritik, die Kompanie-, Bataillons- und Regimentskommandanten jeweils von ihren Vorgesetzten wegen undisziplinierter Mannschaftsangehöriger bekamen, verstärkte diese Tendenz. Mit zunehmender Dauer des Dienstes wurden die Offiziere von ihren zivilen Rollen, die sie im August 1914 zurückgelassen hatten, eingeholt. Gerade ältere, berufstätige, verheiratete Offiziere gaben Arbeit und Familie nun den Vorzug. Sie waren gleichermassen dienstmüde wie ihre Soldaten.
Das Kriegsende und der Landesstreik brachten drittens eine erneute Phase der Unsicherheit und aktualisierte die Deutungsmuster vom August 1914: Die Schweiz sei bedroht, die kriegstüchtige Armee verteidige sie. Gefahr drohte aus Sicht der Offiziere nun von innen. Der Ordnungsdienst bot die Möglichkeit, ihre bisher nur unzureichend gestillten Bedürfnisse zu befriedigen: Sie konnten etwas erleben, sich vor Publikum inszenieren, sich bewähren und damit erfahrene Kritik als unberechtigt darstellen. Da das Bürgertum die Armee erneut unterstützte und den Ordnungsdienst begrüsste, konnte sich das Militär der zuvor teils aufmüpfigen, armeekritischen Zivilbevölkerung erneut überordnen.
Die Erfahrungen, die Deutschschweizer Offiziere während des Aktivdienstes im Ersten Weltkrieg machten, unterschied sich damit deutlich von der Erfahrung derjenigen, die tatsächlich kämpften. Letztere wurden ob den Kämpfen desillusioniert, erstere nicht. Im Gegenteil. Die beiden Muster, sich zu bewähren und etwas zu erleben, prägten die Erfahrung und damit auch das Handeln der untersuchten Offiziere bis zum Ende des Krieges. Mit diesen Erkenntnissen schliesst die Dissertation eine Lücke in der militärgeschichtlichen Forschung zur Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg und damit an die erfahrungsgeschichtliche Forschung im Ausland an.