Die Arbeit untersucht das Netzwerk des St. Galler Textilkaufmanns Jakob Gsell (1815–1896) während seines Aufenthaltes in Rio de Janeiro (1836–1850). Gsell verfügte über weitreichende Geschäftsbeziehungen von der Ostschweiz über Hamburg und Frankreich bis in die Amerikas. Die Schweiz war innerhalb der Textilindustrie eine der grössten baumwollverarbeitenden Regionen Europas und setzte ihre Güter während Gsells Aufenthalt vor allem im amerikanischen Doppelkontinent und im Osmanischen Reich ab. Die Arbeit kann anhand Gsells Netzwerk darlegen, wie integriert die Ostschweizer Textilindustrie im 19. Jahrhundert im zunehmend globalen Handel war: dies zeigt sich beispielsweise in der Präsenz seiner Bekannten in den wichtigsten Handelsorten. Diese globale Verflechtung wird durch die Rekonstruktion des konkreten Netzwerks von Gsell greifbar. Dabei macht die Arbeit auch die Verbindung der Ostschweizer Textilwirtschaft zur „Zweiten Sklaverei“ deutlich. Das Konzept der „Zweiten Sklaverei“ legt den Fokus auf die Sklaverei und andere unfreie Arbeit als integraler Bestandteil im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts.
Mit der Arbeit wird aufgezeigt, dass Jacob Gsells geschäftliche Tätigkeit als Kaufmann in Rio de Janeiro stark von seinem sozialen und kulturellen Kapital abhängig war. Jacob Gsells Netzwerk umfasste während seines Aufenthaltes über verschiedene soziale Beziehungen, wobei einige Familienmitglieder eine herausragende Rolle spielten. Familiäre Handelsnetzwerke waren gerade für den risikoreichen Fernhandel attraktiv, da das Vertrauen in die Geschäftspartner und die Loyalität zum Geschäft durch die verwandtschaftlichen Beziehungen abgesichert werden konnten. Etwaiges Fehlverhalten konnte durch potenzielle soziale Ächtung vermindert werden. Des Weiteren waren Gsells Bekannte aus St. Gallen eine wichtige Quelle für sein soziales Kapital. Die engen geschäftlichen und freundschaftlichen Verflechtungen werden insbesondere mit seinen Freunden aus dem Verein Harmonia deutlich, mit denen er nach seiner Rückkehr aus Rio de Janeiro verschiedene Banken und die Helvetia-Versicherung gründete. Das weltumspannende Agentennetz der Versicherung konnte dabei auf die verschiedenen kaufmännischen Netzwerke der Gründungsmitglieder zurückgreifen.
Dazu benötigte Gsell nicht nur den Besitz von sozialem Kapital, sondern auch kulturelles Kapital in Form eines bestimmten wirtschaftsbürgerlichen Habitus und Lebensstils. Das soziale Kapital beruhte auf Gegenseitigkeit und wurde mit grossem Aufwand in Form von regelmässiger Korrespondenz, Besuchen und Empfehlungen gepflegt. Die Verinnerlichung einer „kaufmännischen Kultur“, die sich neben formalisierten Institutionen wie Verträgen, durch einen bestimmten Habitus auszeichnete, war für den Aufbau von Handelsbeziehungen vertrauensbildend. Es wird somit deutlich, dass das wirtschaftliche Handeln, wie gemäss der These des Soziologen Mark Granovetter, nicht ohne seinen sozialen und kulturellen Kontext verstanden werden kann. Es weist zudem auf die Interdependenz des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals hin, die einen Schwerpunkt der Analyse in dieser Arbeit bildete.
Die Arbeit plädiert deshalb auf das Einnehmen einer vermehrt translokalen und postkolonialen Sichtweise innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Textilhandel und dem Wirtschaftsbürgertum der Schweiz, das mit der Welt des 19. Jahrhunderts eng vernetzt war. Anhand des Indienne-Handels, der bereits auf die Frühe Neuzeit zurückgeht, zeigt sich exemplarisch die Involviertheit und koloniale Komplizenschaft von schweizerischen Kaufleuten und Manufakturen, indem die bedruckten Baumwollstoffe als Tauschwerte im transatlantischen Sklavenhandel verwendet wurden. Dies ist besonders von Bedeutung, weil die Textilindustrie ein Schlüsselbereich für weitere wirtschaftliche Sektoren der Schweiz wie die Banken- und Versicherungsbranche sowie die Chemie- und Maschinenindustrie war. Dabei war die Ostschweizer Wirtschaft des 19. Jahrhunderts fest in den Händen von Ostschweizer Familien. Zu nennen sind beispielsweise die Familien Zellweger, Gonzenbach, Schläpfer oder Gsell, die sowohl geschäftlich, verwandtschaftlich und freundschaftlich eng miteinander verbunden waren. Diese Netzwerke wie dasjenige von Gsell weisen die enge Verbindung von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital auf. Der Wohlstand der einzelnen Familien beruhte dabei oft auf dem Textilhandel mit Baumwollprodukten, der daher eng mit der Sklaverei verflochten war. Das Kapital investierten sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz in den Eisenbahnbau oder gründeten Versicherungs- und Bankgesellschaften, die teilweise bis heute aktiv sind.