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traverse. Zeitschrift für Geschichte. Revue d’histoire 2/2025
Mit dem Begriff der wirtschaftlichen Dependenz wurden in den 1960er Jahren die ungleichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Industrieländern und ehemals kolonialisierten Ländern angeprangert [1]. Das Konzept der Dependenz stand im Mittelpunkt von in Lateinamerika entwickelten Theorien der politischen Ökonomie, die sich zur Erklärung von Entwicklungshemmnissen auf internationale Handelsregeln konzentrierten. Und es wurde auch auf den Fall der Schweiz angewandt, um ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von der Industriemacht England seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zu diskutieren [2]. Dependenztheorien regten kritische Studien über das Phänomen der Globalisierung an, die sich auf asymmetrische Machtbeziehungen konzentrierten. Sie blieben jedoch meist auf makroökonomische Phänomene beschränkt. Vielfach basierten die Vorschläge auf einem positivistischen Geschichtsbild, in dem wirtschaftliche Entwicklung Hand in Hand mit einem westlichen Verständnis von Industrialisierung einherging. In anderen Fällen wurden auch Vorstellungen für eine genuin eigenständige Entwicklung der Dritten Welt jenseits kapitalistischer und staatssozialistischer Industrialisierung formuliert, die sich aber historisch gesehen nicht durchsetzen konnten. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Etablierung des Washington Consensus verlor das Konzept der Dependenz in den 1990er Jahren schließlich an Bedeutung und wurde durch Begriffe wie Offenheit, Interdependenz und Zirkulation abgelöst.
Dieses Heft der traverse lädt Historiker*innen dazu ein, das Konzept der Dependenz (wieder) aufzugreifen, um eine kritische Reflexion über die Folgen wirtschaftlicher Integration in verschiedenen Zeiträumen anzuregen. Darüber hinaus sind wir an Beiträgen interessiert, die das traditionelle Verständnis von Dependenz hinterfragen und erweitern – zum Beispiel, indem sie die komplexen Verflechtungen von mikro- und makroökonomischen Phänomenen in den Blick nehmen, das Konzept auf verschiedene geografische und historische Kontexte vom Mittelalter bis zur Gegenwart anwenden oder Fortschrittsnarrative wirtschaftlicher Entwicklung hinterfragen. Besonders willkommen sind schliesslich Beiträge, die das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Dependenz und anderen Arten von Abhängigkeit (kulturelle und wissenschaftliche Hegemonie, Ausbeutung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen oder ungleiche Geschlechterverhältnisse) untersuchen. Für die Neubetrachtung des Konzepts der Dependenz eignen sich verschiedenste historische Richtungen und Ansätze: Die Geschichte des Kapitalismus, die Wirtschaftsgeschichte, die Unternehmensgeschichte, die Ideengeschichte, die Sozialgeschichte, die Geschichte der Arbeit, die (post)koloniale Geschichte, die Geschlechtergeschichte, die Umweltgeschichte oder die globale und transnationale Geschichte.
In diesem Heft der traverse sollen insbesondere die folgenden Fragen adressiert werden: Wie wirkt sich die Integration von Märkten und die Organisation der Produktion in Wertschöpfungsketten auf die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Einheiten (Nationalstaaten, Unternehmen, Individuen) aus? Wie haben sich die Machtverhältnisse zwischen Schuldnern und Gläubigern historisch verändert? Welche Auswirkungen hat der asymmetrische Besitz von Produktionsmitteln (Leibeigenschaft, Versklavung, Lohnarbeit)? Begünstigen Rechtssysteme Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Weltregionen, Geschlechtern oder Generationen? Welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen haben verschiedene Arten der internationalen Governance (Regulierung, Anreize, Verhaltenskodizes, Selbstregulierung durch private Akteure)? Wie hat sich die Idee der Abhängigkeit in verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Theorien niedergeschlagen oder wurde sie gar ignoriert?
Artikelvorschlag
«Wirtschaftliche Dependenz» wird in Heft 2/2005 der traverse publiziert. Bitte reichen Sie Ihren Artikelvorschlag bis zum 30. Dezember 2023 ein. Die Texte dürfen maximal 30'000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) lang sein und werden im Peer Review-Verfahren (double blind) begutachtet. Alle Informationen zu den Formalia sowie das Style Sheet finden Sie hier: https://revue-traverse.ch/schreiben-fuer-traverse/formale-vorgaben-fuer…
Wir bitten interessierte Personen, ein Abstract (ca. 600 Wörter), ihren CV und ihre Publikationsliste bis zum 20. Juni 2023 an Sabine Pitteloud (sabine.pitteloud@unige.ch), Daniel Allemann (daniel.allemann@unilu.ch), Juan Flores (juan.flores@unige.ch) oder Mischa Suter (mischa.suter@graduateinstitute.ch) zu senden. Die Autor*innen werden im Juni über die Entscheidung der Heftherausgeber*innen benachrichtigt.
[1] Raúl Prebisch, “Commercial Policy in the Underdeveloped Countries.” The American Economic Review 49/2, 1959, S. 251–73.
[2] Ulrich Menzel, Auswege aus der Abhängigkeit. Die entwicklungspolitische Aktualität Europas. Frankfurt am Main 1987.
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