„Glücklich kann sich gegenwärtig derjenige schätzen, der einen Stall voll Vieh besitzt!‟ Die Auswirkungen der Nahrungsmittelknappheit während des Ersten Weltkrieges in der Gemeinde Grindelwald

AutorIn Name
Sandra
Feuz
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr.
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2022/2023
Abstract

Der Erste Weltkrieg bildete eine Zäsur in der Versorgungspolitik des Schweizer Bundesstaates. Bis dahin hatte der Bundesrat weitgehend auf eine interventionistische Politik verzichtet und setzte mit Blick auf die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung auf die Einbindung des Landes in den internationalen Weltmarkt. Getreide und Tierfutter stammten vorwiegend aus dem Ausland, während sich die inländische Landwirtschaft auf die Produktion und den Export von Milch- und Fleischwaren spezialisiert hatte. Der weitgehende Zusammenbruch der Importe während des Ersten Weltkrieges sowie witterungsbedingte Ausfälle führten in der Schweiz zu Nahrungsmittelengpässen. Der Bund sah sich gezwungen, interventionistisch in die Wirtschaft einzugreifen und erliess in diesem Zusammenhang Anbau- und Rationierungsmassnahmen.

 

Die Masterarbeit widmet sich der Frage, wie sich die Nahrungsmittelknappheit sowie die damit einhergehenden behördlichen Massnahmen in der touristisch und alpwirtschaftlich geprägten Gemeinde Grindelwald im Kanton Bern auswirkten. Sie nimmt damit einen peripheren Raum abseits der klassischen Stadt-Land-Perspektive in den Fokus. Der landwirtschaftliche Anbau von Getreide und Kartoffeln hatte dort nämlich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung verloren. Die lokalen Bauern fokussierten sich auf die finanziell attraktivere und naturräumlich bevorzugte Käseproduktion und insbesondere die Viehzucht. Die rasante touristische Entwicklung in der Belle Époque bot den Einwohner:innen zudem attraktive alternative Einkommensquellen. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs des europäischen Konflikts befand sich die Berggemeinde mit dem Bau zahlreicher Hotels und der Eröffnung des Jungfraujochs auf dem Höhepunkt ihrer damaligen touristischen Entwicklung.

 

Die Untersuchung stützt sich im Wesentlichen auf Artikel, Inserate und Annoncen des lokalen Anzeigeblattes „Echo von Grindelwald‟. Weitere zentrale Bestände bilden Dokumente aus dem Gemeindearchiv Grindelwald sowie kantonale und nationale Erlasse. Zusätzlich werden statistische Zeugnisse zum landwirtschaftlichen Anbau und Viehzählungen berücksichtigt. Insgesamt stützt sich die Herangehensweise auf eine Kombination von qualitativen und quantitativen Quellen.

 

Die Masterarbeit zeigt, dass Bund und Kanton im Rahmen der kriegswirtschaftlichen Massnahmen die Gemeinden in die Pflicht nahmen. Auf lokaler Ebene entstanden zahlreiche Kommissionen und Kartenstellen, die für die Durchführung der behördlichen Anbauund Rationierungsmassnahmen vor Ort verantwortlich waren. Die Durchsetzungskraft dieser Komitees war zumindest in der Gemeinde Grindelwald allerdings eher beschränkt. In den untersuchten Quellen finden sich zahlreiche Hinweise, dass die Bevölkerung die geltenden Vorschriften nur bedingt einhielt und auch die Verantwortlichen auf Gemeindeebene tendenziell selten durchgriffen. Gerade bei Selbstversorgern war es für die Behörden schwierig, die Einhaltung der Anordnungen zu kontrollieren.

 

Im Jahr 1917 nahmen die Versorgungsengpässe aufgrund klimatisch bedingter schlechter Ernten und zunehmender Handelshemmnisse zu. Vor diesem Hintergrund verordneten Bund und Kanton den Ausbau des landwirtschaftlichen Anbaus. Aufgrund der naturräumlichen Verhältnisse stand in Grindelwald die Ausdehnung der Kartoffelproduktion im Zentrum. Im Jahr 1917 konnte die Anbaufläche in der Gemeinde um 30 % gesteigert werden. Die idealen Witterungsverhältnisse verschafften der Gemeinde sogar eine Ertragssteigerung von über 60 % im Vergleich zum Vorjahr. Dem grossen Boom des Jahres 1917 stand 1919 trotz verordnetem Mehranbau jedoch ein Rückgang der Anbaufläche gegenüber.

 

Die Viehzucht gestaltete sich in Grindelwald während der ersten Kriegsjahre aufgrund der grossen Nachfrage sehr attraktiv. Die Landwirte konnten die Tiere zu einem bis dahin nie gesehenen hohen Preis veräussern. Als im Jahr 1916 aufgrund des schlechten Wetters die Heuernte sehr niedrig ausfiel, änderte sich diese Situation. Dazu kamen ein lang anhaltender Winter 1917 und schweizweit fehlende Futtermittelimporte. Die Frühlingsmonate waren von Heumangel und verminderter Milchproduktion geprägt. Aufgrund der Mangellage erliessen die nationalen Behörden Regeln zur Viehzucht und überwachten den Handel mit Heu. Örtliche Viehbesitzer hielten sich allerdings nicht an die Vorschriften betreffend Milchrationierung und verarbeiteten ihre überschüssige Milch dennoch zu Käse, anstatt diese für den Konsum der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Grindelwald war so trotz des hohen Bestands an Milchkühen auf die Einfuhr von Trinkmilch angewiesen. Hinweise zeigen, dass auch Gemeinderäte, welche selbst Vieh besassen, sich nicht an die geltenden Vorschriften hielten.

 

Der Erste Weltkrieg führte zu einem jähen Zusammenbruch der touristischen Entwicklung der Gemeinde Grindelwald und entzog einem grossen Teil der Bewohner:innen einen wesentlichen Teil ihrer Lebensgrundlage. Die Bevölkerung fühlte sich hinsichtlich der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit sowie den strengen Massnahmen für die örtliche Nahrungsmittelproduktion vom Staat im Stich gelassen. Vereinter Widerstand bildete sich nicht zuletzt deshalb im gesamten Berner Oberland gegen die Einführung der Käserationierung. Die Bergtäler sahen sich von dieser Massnahme überproportional betroffen und fürchteten um die Grundlage ihrer Nahrungsmittelversorgung.

 

Insgesamt zeigt die Untersuchung, dass die klassische duale Stadt-Land-Perspektive im Kontext der Versorgungskrise für die Einordnung der Situation der Bevölkerung in der Schweiz für Grindelwald zu wenig weit greift. Ein Teil der Bevölkerung, insbesondere Grossviehbesitzer, profitierte von der Kriegswirtschaft, während Arbeitnehmende im Fremdenverkehr zu den grossen Verlierern zählten.

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