Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr.
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2021/2022
Abstract
Am 11. Mai 1919 entschied das Vorarlberger Stimmvolk über die Frage, ob mit der Schweiz Verhandlungen über einen Beitritt als 23. Kanton aufgenommen werden sollten. Das Abstimmungsergebnis zeigte mit über 80 Prozent eine deutliche Zustimmung. Allerdings gab es in der Schweiz und in Vorarlberg nicht nur Anschlusswillige, sondern auch gegnerische Stimmen. Es formierten sich Gruppierungen wie das anschlussfreundliche Komitee Pro Vorarlberg und das anschlussfeindliche «Schwabenkapitel». Ob die Menschen nun für oder gegen einen Beitritt zur Eidgenossenschaft waren – es schienen sich ausschliesslich männliche Akteure in dieser Bewegung zu engagieren. Inwiefern sich die Vorarlbergerinnen und die Schweizerinnen mit der «Vorarlberger-Frage» befassten, wurde in der Forschung bisher ausgeklammert und deshalb in dieser Masterarbeit aufgegriffen.
Die Forschungslücke erscheint besonders interessant hinsichtlich der Tatsache, dass die Vorarlbergerinnen, wie der Rest der Österreicherinnen, seit November 1918 das Stimmrecht besassen – im Gegensatz zu den Schweizerinnen – und am 11. Mai 1919 stimmberechtigt waren. Die weiblichen Stimmberechtigten stellten sogar eine Mehrheit und die weiblichen Stimmen müssten daher einen grossen Einfluss auf das Ergebnis gehabt haben. Dieser bedeutenden Rolle von Frauen haben die staatlichen Archive wenig Rechnung getragen, denn es wurden kaum Quellen zum Geschlechterverhältnis archiviert – was wiederum die Forschungslücke erklären könnte.
Das geringe Interesse der Forschung erstaunt auch insofern, als mit einem Beitritt Vorarlbergs ein erster Schweizer Kanton bereits 1919 das Frauenstimmrecht gekannt hätte. In der Masterarbeit konnte zwar nicht festgestellt werden, dass Frauen dieses Argument für einen Beitritt benutzt hätten, jedoch erkannte Ernst Schürch, Redaktor der Berner Zeitung «Der Bund», diese besondere politische Situation und griff sie auch in weiteren Artikeln auf. Ähnliches liess sich in der «Gazette de Lausanne» nachweisen. Männliche Zeitgenossen beschäftigten sich mit dieser politischen Problematik, Politiker führten die Thematik jedoch nicht öffentlich als Argument in der «Vorarlberger-Frage» an. Ähnliches war bei internationalen Frauenkongressen der Fall – dort wurde das Selbstbestimmungsbestreben der Vorarlbergerinnen und Vorarlberger nicht behandelt. Dies erstaunte deshalb, weil Quellen zeigen, dass sich Schweizer Frauenrechtlerinnen in anschlussfreundlichen Vereinen engagierten und auch an den internationalen Kongressen teilnahmen.
Frauen und Frauenvereine waren dafür im Umfeld der Anschlussbemühungen im Bereich der Wohltätigkeit ein unverzichtbares Standbein in der Hilfeleistung für die Vorarlberger Bevölkerung. Sie fügten sich damit in ein Rollenbild ein, welches den dominierenden bürgerlichen Normen entsprach. Mithilfe fragmentarischer Quellenbestände konnten konkrete Beispiele eruiert werden, wie sich Vorarlbergerinnen und Schweizerinnen nach 1918 für Vorarlberg engagierten. Zum einen konnte das Engagement von Schweizerinnen in konkreten Hilfsaktionen für das am Ende des Ersten Weltkrieges unter grossen wirtschaftlichen und ernährungstechnischen Problemen leidende Vorarlberg nachgewiesen werden, zum anderen waren viele Frauen beim Verbreiten von Spendenaufrufen an die Schweizer Bevölkerung beteiligt. Erstmals konnten somit konkrete Verbindungen der Schweizer Frauenvereine mit dem Komitee Pro Vorarlberg aufgezeigt werden.
Aber auch die Vorarlbergerinnen setzten sich für die notleidende Bevölkerung im eigenen Land ein, indem sie sich an Strassenprotesten beteiligten und bei Politikern vorstellig wurden. Der Fokus lag bei den Vorarlbergerinnen zudem nicht nur auf der Besserung der Ernährungslage, sondern auch auf der Versorgung von Kriegsgefangenen im Ausland und auf der Senkung der Säuglingssterberate. Neue Erkenntnisse konnten hier durch den Einbezug weiblicher Stimmen in vorarlbergischen und Schweizer Zeitungsartikeln zu den Hungerprotesten gewonnen werden, die zeigten, dass auch unter den Vorarlbergerinnen unterschiedliche Meinungen darüber herrschten, in welcher Form sie in die Hilfeleistungen zugunsten der Bevölkerung integriert werden wollten.
In der vorliegenden Masterarbeit kristallisierte sich heraus, dass das Frauenstimmrecht in der Debatte um das Anschlussbestreben Vorarlbergs an die Schweiz zwar eine untergeordnete Rolle spielte, die karitative Unterstützung der Schweizer Frauenvereine jedoch einen wesentlichen Beitrag zur Linderung der wirtschaftlichen Notlage in Vorarlberg leistete.