Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stefan
Rebenich
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2021/2022
Abstract
Theodor Mommsen ist Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Forschung. Nachdem sein Nachlass im Jahr 1933 zugänglich wurde, sind zahlreiche Aufsätze, Editionen und Biografien erschienen, die sich Leben und Leistung des Althistorikers widmeten. Innerhalb dieser umfangreichen wissenschaftsgeschichtlichen Forschung findet Mommsens privat-häusliches Umfeld – und insbesondere seine Gattin Marie geb. Reimer – erstaunlich wenig Beachtung. Die Berücksichtigung seiner familiären Lebenswelt mit ihren spezifischen Praktiken und sozialen Rollen ist ein Desiderat.
Um die familiäre Lebenswelt dieses bedeutenden Vertreters des Berliner Bildungsbürgertums des späten 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren, wurde die sich über 50 Jahre erstreckende Korrespondenz zwischen Theodor und Marie Mommsen ins Zentrum dieser Masterarbeit gestellt. Aus dem Quellenkorpus von 1170 Briefen wurden rund 200 Briefe im Zeitraum von 1862 bis 1896 zur Untersuchung herangezogen, die während Mommsens zehn Forschungsreisen nach Rom entstanden sind.
Ausgehend von der These, dass die Korrespondenz Phasen der physischen Trennung bewusst überbrückte, lag das Ziel dieser Arbeit darin, die unterschiedlichen sozialen und praktischen Funktionen zu definieren, welche das gegenseitige Schreiben für die Bildung und Erhaltung des häuslichen Alltags erfüllte. Dafür wurden die Briefe auf drei unterschiedlichen Ebenen beleuchtet:
Auf selbstreferenzieller Ebene wurde die Frage behandelt, wie die Ehegatten über das Schreiben an sich und das schriftliche Medium als Ereignis und Objekt sprachen. Dabei zeigte sich, dass die selbstreferenziellen Bezüge besonders in der gegenseitigen Vergegenwärtigung der Schreib- und Leseposition bestanden, zu der sowohl Schilderungen des Empfangs, der örtlichen oder zeitlichen Schreibsituationen oder der von aussen erzwungenen Störungen des Schreibakts gehörten. Beide Ehepartner waren darum bemüht, die Hinwendung zu Papier und Tinte als ausdrücklich für und in den Partner investierte Zeit zu inszenieren.
Auf performativer Ebene ging es um die Fragen, wie der normalerweise gemeinsam geführte Alltag in gegenseitiger Abwesenheit dargestellt wurde, welche gesellschaftlichen Ereignisse und täglichen Praktiken in den Briefen erwähnt wurden und inwiefern die Ehepartner bei diesen Beschreibungen bewusst mit stereotypen Geschlechterrollen spielten. Es waren die Bereiche Kindererziehung, Haushaltsorganisation und Geselligkeit, welche die dominierenden Themen der Korrespondenz bildeten. Die Briefe boten dabei nicht eine genaue Schau in den Alltag, sondern sehr bewusst selektionierte und reflektierte Einblicke, anhand derer das Ehepaar seine häusliche Lebenswelt und die komplexen Beziehungsverhältnisse ausdifferenzierte. Die Gatten nutzten die schriftlichen Interaktionen ausdrücklich als Bühne, um eheliche Rollen und Pflichten über den Akt des Schreibens zu präsentieren und zu nuancieren.
Auf pragmatischer Ebene interessierte, welche konkreten Aufgaben Marie Mommsen als familiäre Stellvertreterin ihres abwesenden Mannes einnahm. Die entscheidende Frage hierbei war, welche Rolle die Gattin bei der Aufrechterhaltung des für Mommsens Tätigkeit notwendigen Berufsnetzwerks hatte. Marie Mommsen protokollierte für ihren Ehemann nicht nur genauestens den personalen Einund Austritt im Haushalt, sondern versorgte diesen durch ihr aktives Eingreifen in die Berliner Bekanntenkreise auch kontinuierlich mit gesellschaftlichem und universitätspolitischem Wissen, um diesen aus der Ferne in die bürgerlich-akademischen Kreise Berlins zu inkludieren. Die Hausherrin fungierte zudem als wichtige Mittlerin, durch die mündlich oder schriftlich vorgebrachte Mitteilungen und Kontaktaufnahmen von und zu Mommsen zwischen Rom und Berlin gewährleistet wurden.
Das Ehepaar pflegte, regelte und kompensierte in seinem Briefwechsel unterschiedliche Facetten des getrennt verbrachten Alltags. Einerseits wurde das Schreiben dazu genutzt, um private Sphären zu zelebrieren, Intimität zu erzeugen und Alltagspflichten zu vergegenwärtigen. Das Ehepaar schuf damit innerhalb des Briefes ein wechselseitig ausgehandeltes, diskursives und nicht zwangsläufig der häuslichen Wirklichkeit entsprechendes Ideal. Anderseits diente der Briefwechsel dazu, den realen Alltag strategisch und effizient zu organisieren, wobei gerade Marie Mommsen über den ihr in zeitgenössischer Literatur zugeteilten weiblichen Kompetenzbereich hinauswirkte und Teil der althistorischen Grossforschung ihres Gatten wurde.