Für wen sind die Blumen? Bilder von Krieg, Gewalt und Widerstand in Irina Ėrenburgs «Reise durch Litauen» (1944)

AutorIn Name
Lukas
Nagy
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Dr. habil.
Carmen
Scheide
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2020/2021
Abstract
Im Spätsommer 1944 begab sich Irina Ėrenburg (1911 – 1997) im Auftrag des «Antifaschistischen Komitees der Sowjetjugend» in das zuvor eben erst befreite Litauen. Vor Ort führte sie eine Vielzahl an Gesprächen mit Menschen der verschiedenen ethnischen Gruppen im Land, welche unter der deutschen Besatzungsherrschaft (1941 – 1944) gelitten hatten. Ėrenburg hielt ihr «Oral-History»-Projekt in der Reportage «Poezdka po Litve» (Reise durch Litauen) fest. Die Arbeit untersucht im ersten Teil, welche Narrationen in der Reportage vorzufinden sind. In einem zweiten Teil wird dann die Frage gestellt, welcher Spielraum unter der Herrschaft Stalins für sowjetische Berichterstatterinnen und Berichterstatter existierte, um über den Holocaust zu berichten. Diese Fragestellung ergab sich aus der Erkenntnis, dass Irina Ėrenburg der Verfolgung des jüdischen Volkes in Litauen einen Grossteil ihres Berichtes widmete. Anhand von Ėrenburgs Quelle konnte die Ambivalenz der «Figur des passiven Opfers» aufgezeigt werden. Alle von ihr präsentierten Formen von Widerstand zeigen klare aktive Momente auf; dies widerspricht dem gängigen Opferstatus, der auf Passivität verweist und dessen Anerkennung eigentlich davon abhängt, dass dem Geschädigten kein eigenes Zutun zugebilligt wird. Das trifft jedoch auf die (jüdischen) Akteurinnen und Akteure in der Reportage nicht zu, denn gerade Ėrenburgs Anerkennung für deren Zutun ist es, das in der Quelle heraussticht. Irina Ėrenburg präsentiert eine Vielzahl unterschiedlicher Bilder in ihrer Reportage. Ihre Einblicke werden durch eine «rote Brille» geschildert, das heisst, der «positive» kommunistische Bezug ist jederzeit gegeben. So entwickelt sich durch die Erzählung hindurch ein klares Freund-Feind-Schema, indem der Sowjetunion und der Roten Armee einzig die Rolle der Befreierin (ab 1944) respektive der politischen und wirtschaftlichen Stabilität (vor 1941) zugeschrieben wird. Weiter manifestiert sich dies aber auch anhand der Tatsache, dass Litauer und Polen dort, wo sie mit Juden in persönlichen Bezug gebracht werden, stets als deren Helfer erscheinen. Das (problematische) Thema der vor allem litauischen Beteilung an der Judenverfolgung und -ermordung wird komplett ausgelassen, ebenso die Tatsache, dass viele (ethnische) Litauer dem kommunistischen Widerstand feindlich gegenüber gestimmt waren. Die Darstellung der Judenverfolgung und des Holocaust in der Sowjetunion ab Kriegsbeginn bis zu Stalins Tod wurde in vier Phasen unterteilt. Allgemein kann gesagt werden, dass mit dem fortschreitenden, für die Sowjetunion positiven Verlauf des Krieges ab 1942 /43, Erwähnungen spezifischer Opfergruppen einem sowjetischen Opfernarrativ wichen, womit den Juden als eigenständiger Gruppe der Platz in der sowjetischen Erinnerung verwehrt wurde. Spätestens ab 1947 /48 schlug diese Tabuisierung dann in offenen (staatlichen) Antisemitismus um, welcher sich in der Entfernung von Denkmälern, der Schliessung jüdischer Institutionen sowie der Liquidierung ihrer Leiter niederschlug. Ein offizielles Verbot, das Thema Holocaust in der sowjetischen Publizistik zu thematisieren, gab es nicht. Dennoch wäre es naiv zu behaupten, es hätte keine Grundsatzlinien gegeben, an die sich Irina Ėrenburg in ihrer Reportage hätte halten können. Ihr in der Armeezeitung Krasnaja zvezda («Roter Stern») erschienener Artikel «Das Neunte Fort» – ein Teilausschnitt ihrer Reportage, der aber isoliert betrachtet eine Marginalisierung der jüdischen Opfer darstellt – lässt exemplarisch die «von oben» aufgezwungene Devise erkennen, welche die Journalist*innen und Berichterstatter*innen zur Selbstzensur zwang. Dass diese Devise nicht immer und nicht bei allen gleich gehandhabt wurde, konnte in der Arbeit ebenfalls gezeigt werden.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

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