Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Dr. habil.
Carmen
Scheide
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2020/2021
Abstract
Der Inhalt dieser Arbeit richtet sich primär nach der Beantwortung der folgenden zentralen Leitfragen, wird jedoch ebenfalls durch zusätzliche kontextualisierende und vertiefende Kapitel ergänzt.
Welche Hauptakteure der «Roten Drei» lassen sich identifizieren und wie könnten diese in einem entsprechenden Akteur-Netzwerk verortet werden? Welche nachrichtendienstlichen Vorgehensweisen und Spionage- bzw. Geheimhaltungspraktiken fanden im Widerstand der «Roten Drei» gegen den Nationalsozialismus Verwendung, und welche allfälligen Gegenmassnahmen wurden von der faschistischen Gegenpartei ergriffen?
Auf welchen Informationsquellen basierten die von der «Roten Drei» nach Moskau übermittelten Funksprüche, zwischen welchen Typen von Informationsinhalten kann unterschieden werden, und wie ist die tatsächliche Informationsqualität bzw. -validität zu bewerten?
Wie ist der Einfluss der nachrichtendienstlichen Spionagetätigkeit - welche über die Funksendestationen der «Roten Drei» praktiziert wurde - auf den Kriegsverlauf an der Ostfront und somit den Ausgang des Zweiten Weltkriegs zu bewerten?
Die Methode basiert auf Literaturrecherche und kritischer Quellenanalyse. Um Aufschlüsse über die Organisation der «Roten Drei» zu erhalten, wird eine Akteur-Netzwerk-Analyse durchgeführt. Ebenso sollen die Operationsmodi der sowjetischen Agenten und der deutschen Funkabwehr überwiegend anhand von Memoiren und Biografien der jeweiligen Akteure aufgedeckt werden. Die Informationsquellen, -inhalte und -qualität bzw. -validität sollen durch eine kritische Quellenanalyse und den Beizug von (Sekundär-)Literatur bestimmt werden. Zur Bewertung des tatsächlichen Einflusses auf den Kriegsverlauf an der Ostfront bzw. den Ausgang des Zweiten Weltkriegs wird auf (Sekundär-)Literatur zurückgegriffen.
Zu den zur Verfügung stehenden Quellen gehört ein ursprünglich 169 Dokumente umfassendes Dossier aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, das auf die für diese Arbeit relevanten Dokumente reduziert wurde. Ebenso liegen Memoiren von ehemaligen Agenten der «Roten Drei» und von Akteuren der faschistischen Gegenpartei vor.
Die Ergebnisse zeigen, dass das Agentenkollektiv, das sich aus ungarischen, deutschen, polnischen, französischen, britischen und Schweizer Akteuren zusammensetzte, in erster Linie von antifaschistischen Überzeugungen angetrieben worden zu sein schien. Die kommunistische Ideologie, die monetären Anreize, das Rachemotiv oder sogar der Abenteuerdrang scheinen hingegen eine eher untergeordnete, nur auf einzelne Individuen anwendbare Rolle gespielt zu haben. Die «Roten Drei» hatte eine Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Sowohl organisationsintern als auch auf die konkreten Geheimhaltungspraktiken bezogen, wurde alles darangesetzt, das Risiko von allfälligen Doppelagenten, des unerlaubten Eindringens in den geheimen Nachrichtenkanal und der Aushebung durch die Schweizer Behörden zu vermindern. Jedoch gab es ebenfalls Regelbrüche zu verzeichnen. Im direkten Kampf gegen die «Roten Drei» musste die faschistische Gegenpartei auf die List als Mittel zum Zweck zurückgreifen: Die in die Schweiz eingeschleusten Agenten sollten einerseits der «Roten Drei» auf die Schliche kommen, andererseits aber auch eine versteckte Maschinerie zur Erfüllung der deutschen Pläne gegenüber der Schweiz vorbereiten.
Darüber hinaus wurden ehemalige Funkstützpunkte von bereits ausgehobenen Gruppen der «Roten Kapelle» dafür verwendet, «gefälschte Funkspiele» mit der Zentrale in Moskau durchzuführen.
Ob Rudolf Rössler ein «Meisterspion» oder ein «Nachrichtenfabrikant» war, lässt sich noch heute nicht schlüssig beantworten. Die vorliegende Arbeit hat mehrere Theorien über angebliche Informanten in den deutschen Reihen vorgestellt. Ein Konsens lässt sich vermutlich nur dahingehend finden, dass es keine Beweise dafür gibt, dass es jemals einen Hauptinformanten im Führerhauptquartier gegeben hat. Diese Spekulationen erscheinen insofern nicht ausschlaggebend, als dass das Informantennetz der «Roten Drei» nicht auf diese umstrittenen Verbindungen reduziert werden sollte. Wie gezeigt werden konnte, war die «Rote Drei» dazu imstande, von einer ausgeprägten Verflechtung zu profitieren.
Mehrere Erklärungsansätze zu den ebenfalls in den Funksprüchen enthaltenen Falschinformationen wurden vorgestellt. Andererseits wurde auch darauf hingewiesen, dass die Qualitäts- bzw. Validitätsanalysen der Funkspruchinhalte aufgrund von propagandistisch gefärbten Zahlen zu Fehlbeurteilungen führen könnten. Darüber hinaus wäre die Schlussfolgerung, dass eine hohe Qualität bzw. Validität der Funkspruchinhalte mit einem ebenso hohen Einfluss auf den Kriegsverlauf an der Ostfront bzw. den Ausgang des Zweiten Weltkriegs einhergeht, durchaus zu kurz gegriffen: Rückschlüsse auf den Einfluss eines sowjetrussischen ND-Netzes auf das tatsächliche Kriegsgeschehen würden erst dann gezogen werden können, wenn die sowjetrussischen Quellen erschliessbar wären. Somit liesse sich eventuell nachverfolgen, ob es in den sowjetischen Befehlsbehörden kriegsstrategische Reaktionen gegeben hatte, die auf den Informationsgewinn vonseiten ihrer nachrichtendienstlichen Netze zurückzuführen waren. Deutlich realistischer erscheint jedoch, dass nachrichtendienstliche Netze höchstwahrscheinlich gar nicht dazu imstande sind, einen kriegsentscheidenden Einfluss auszuüben. Die Geheiminformationen sind zu anfällig für Sabotageakte der Gegenpartei oder individuelle Fehler der nachrichtendienstlichen Agenten bzw. ihrer Informanten. Die Hauptfunktion eines ND-Netzes besteht vielmehr darin, den Wissensstand seines jeweiligen Generalstabs bestenfalls zu ergänzen und Annahmen, Vermutungen oder Meldungen aus anderen Informationskanälen zu bestätigen oder zu verwerfen. Demzufolge hat die «Rote Drei» höchstwahrscheinlich weder den Kriegsverlauf an der Ostfront – geschweige denn den Ausgang des Zweiten Weltkriegs – entscheidend beeinflusst. Nicht zuletzt dank den beinahe optimalen Rahmenbedingungen, die sich ihr in der Schweiz anboten, den diversen von ihr getroffenen Sicherheitsvorkehrungen und dem weitreichenden Informantennetz, auf das sie zurückgreifen konnte, hat die «Rote Drei» ihre – wenn auch nicht kriegsentscheidende – Funktion höchstwahrscheinlich trotzdem erfüllt.