Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Kodirektion
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2019/2020
Abstract
Mit der Bundesverfassung von 1848 wurde in der Schweiz das allgemeine Stimm- und Wahlrecht eingeführt. Einigen sozialen Gruppen blieb die politische Partizipation jedoch lange Zeit verwehrt. Während die Frauen auf eidgenössischer Ebene bis 1971 warten mussten, um ihr Stimmrecht ausüben zu dürfen, blieben bis weit ins 20. Jahrhundert auch unzählige Männer ausgeschlossen, die straffällig wurden, Armenunterstützung bezogen, Schulden hatten, bevormundet wurden oder administrative Zwangsmassnahmen erleiden mussten.
Die Ausübung des Stimm- und Wahlrechts war lange Zeit nur von der kantonalen Gesetzgebung abhängig. Während der Bundesrat in den 1870er Jahren durch mehrere Reformen versuchte, die Kriterien der Stimmberechtigung auf eidgenössischer Ebene festzuschreiben und so mehrere soziale Gruppen in den Wahlkörper zu integrieren, scheiterten sämtliche bundesrätlichen Vorlagen am Stimmvolk. Per Referendum wehrten sich die Kantone gegen mehr bundesstaatlichen Einfluss. Der Entscheid, wer zum kommunalen und kantonalen Stimmvolk gehören sollte, blieb somit in der Hand der Kantone. Finanzielle Überlegungen spielten dabei eine ausserordentlich grosse Rolle. Der Grundsatz «Wer zu den öffentlichen Lasten nichts beitrage, dürfe auch nicht mitbestimmen» zog sich wie eine rote Linie durch die zahlreichen Versuche, einheitliche Bestimmungen über die Stimmberechtigung Schweizer Bürger festzuhalten.
Die kantonalen Verfassungen und Gesetzgebungen zeichneten die Grenzen, anhand welcher die Wahlkörper für kommunale, kantonale und eidgenössische Abstimmungen und Wahlen zusammengesetzt wurden. Diese föderalistische Regelung führte zu einem Flickwerk an Bestimmungen und Ausschlussgesetzgebungen, das eine beachtliche Zahl an Bürgern von der politischen Teilnahme fernhielt. Das kommunale Anrecht, erstinstanzlich über die Stimmfähigkeit von Ansässigen, Neuzugezogenen und Aufenthaltern zu entscheiden, führte dabei wohl zu einer hohen Dunkelziffer von ausgeschlossenen Stimmberechtigten mobiler sozialer Unterschichten. Die genaue Anzahl Ausgeschlossener ist infolge der fehlenden Statistiken nicht mehr nachvollziehbar.
Für diese Arbeit wurden die Stimmrechtsrekursentscheide des Regierungsrates des Kantons Luzern untersucht. Neben den Entscheiden der Kantonsexekutive weist das Quellenkorpus die Kommunikation zwischen den verschiedenen föderalen Ebenen auf und beinhaltet Stellungnahmen und Gutachten der Luzerner Amtsgehilfen über die Betroffenen.
In der Masterarbeit wird danach gefragt, wie sich der gesetzliche und verfassungsrechtliche Diskurs über den Untersuchungszeitraum (1918 – 1970) wandelte und wie sich die verschiedenen Formen eines Entzugs politischer Rechte beschreiben lassen. Fokussiert wird dabei auf den Verlust infolge eines falsch oder nicht genügend gesetzlich geregelten politischen Wohnsitzes sowie den Entzug politischer Rechte aufgrund einer «moralischen» Verschuldung eines Betroffenen. Im Umgang mit sozialen Unterschichten kannten die Luzerner Gesetzestexte und Verordnungen unscharfe Rechtsbegriffe, die auf die individuelle moralische Devianz der Betroffenen abzielten. Mit Begriffen wie «Liederlichkeit», «Arbeitsscheu», «Misswirtschaft» oder «Trunksucht» wurden Luzerner Bürger stigmatisiert und vom politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Die Unterstützungsbedürftigkeit galt bald als «selbstverschuldet »; die Exklusion aus den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten geschah infolge der Unfähigkeit oder Unmöglichkeit der Unterschichten, einem bürgerlichen Idealtyp nachzueifern. Die Eingriffe, allen voran der Stimmrechtsentzug aufgrund von «Trunksucht», entpuppen sich als Paradebeispiele biopolitischer Massnahmen im Foucaultschen Sinne. Die Zerstörung und Zersetzung des eigenen Körpers durch übermässigen Alkoholkonsum lief parallel mit dem sozialen Abstieg innerhalb der Gesellschaft. Administrative Massnahmen wie Einweisungen in Zwangsarbeitsanstalten oder Trinkerheilstätten wurden durch die Behörden vorgenommen, um den Luzerner Wahlkörper auf nüchterne, rational denkende und wirtschaftlich unabhängige Bürger zu begrenzen. Erst mit dem Luzerner Abstimmungsgesetz von 1970 wurde eine Vielzahl der diskriminierenden Ausschlussgründe aus der Verfassung gestrichen.
Die Masterarbeit trägt ihren Teil zu einem unterbelichteten Forschungsfeld bei. Während die Geschichte des Stimm- und Wahlrechts für das 19. Jahrhundert bereits in einigen Publikationen behandelt wurde, beschränkte sich die Forschung im 20. Jahrhundert vorwiegend auf die späte Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. Die Geschichte des Verlusts politischer Rechte der Schweizer Männer in den Kantonen bildet deshalb nach wie vor ein zu füllendes Forschungsdesiderat.