Die 2022 eingereichte Dissertation fokussiert auf die Erinnerungskultur(en) des Landesstreiks von 1918 bis zur historischen Aufarbeitung des Ereignisses ab 1968. Im Zentrum stehen dabei die Mittel und Formen der Etablierung, Tradierung und politische Nutzung unterschiedlicher Deutungsmuster und Narrative des Landesstreiks durch die massgebenden gesellschaftspolitischen Kräfte der Schweiz.
Im landesweiten Generalstreik vom 12. bis 14. November 1918 kulminierten die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konflikte zwischen der bäuerlich-bürgerlichen Bevölkerung und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, die sich während der Kriegsjahre zugespitzt hatten. Rund 250000 Arbeiter:innen gaben ihrem Unmut über politische Exklusion, Wohnungsnot, Versorgungs- probleme, Lohnabbau und Teuerung Ausdruck. Ih- nen standen 95 000 Soldaten der Schweizer Armee und zahlreiche spontan gebildete Bürgerwehren gegenüber. Nach einem Ultimatum des Bundesrats kapitulierte die Streikleitung bereits nach wenigen Tagen. Die Konfrontation belastete das politische und gesellschaftliche Klima der Schweiz wäh- rend der Zwischenkriegszeit und wirkte bis in die 1960er Jahre nach.
Es zeigte sich, dass der öffentlich-mediale Streit respektive Aushandlungsprozess um die Deutung des Ereignisses bereits mit dem Ausbruch des Landesstreiks einsetzte. Die gesellschaftlichen und politischen Gräben, die durch den Landesstreik vertieft wurden, bildeten sich rasch auch erzählerisch ab. In der Folge etablierten sich konkurrierende Narrative, die von den ideologischen Perspektiven der verschiedenen gesellschaftspolitischen Gruppen geprägt waren. Die Wahrnehmung des Landesstreiks wurde von transnational verbreiteten Revolutionsängsten massgeblich beeinflusst.
Dass ein Grossteil der Akten zum Landesstreik im Schweizerischen Bundesarchiv mit einer 50-jährigen Sperrfrist belegt war, trug wesentlich zur Legendenbildung bei. Die grosse Popularität und öffentlich-mediale Präsenz der entstandenen Deutungsmuster machten die Landesstreikerinnerung folglich zu einem vielfältigen Spielball politischer Interessen. Dies wurde besonders in der Zwischenkriegszeit deutlich, deren politischer Alltag noch über weite Strecken von einer regelrechten „Generalstreikpsychose“ geprägt war. Das Klima der kollektiven Verunsicherung und Angst wurde von den Vertretern der verschiedenen politischen Kräfte eifrig bewirtschaftet und genutzt. In den 1920er sowie den frühen 1930er Jahren kam es zu zahlreichen ideologisch aufgeladenen politischen Auseinandersetzungen, Veranstaltungen sowie Wahl- und Abstimmungskämpfen, bei denen die Erinnerung an den Landesstreik als politisches Argument eingesetzt wurde.
Besonders für die sozialdemokratische und kommunistische Linke bildete das Ereignis einen zentralen historischen Bezugspunkt, das die Stärke der Arbeiterschaft symbolisierte und zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Klassenidentität wurde. Die Ursachen des Landesstreiks wurden auf der Linken vornehmlich im Bereich der ungleichen Lastenverteilung, der fehlenden politischen Partizipationsmöglichkeiten von SP und Gewerkschaften und der sozialen Notlage breiter Bevölkerungsschichten während der Kriegsjahre gedeutet. Es entstand hier eine – von der späteren, quellenbasierten Geschichtsschreibung weitgehend untermauerte – Kulminationsthese, wonach der Landesstreik als Höhepunkt einer wirtschaftlich-sozialen und politischen Zuspitzung zwischen der Arbeiterschaft und dem Bürgertum sowie den bürgerlich dominierten Bundesbehörden gedeutet wurde. Im Landesstreik entluden sich demnach
Gefühle der Frustration, der Verzweiflung und der Wut, die sich insbesondere in der städtischen Arbeiterschaft über mehrere Jahre hinweg aufgestaut hatten. Mit der sozialpolitischen Aufbruchsstimmung, die Ende 1918 einsetzte und bis zum Jahreswechsel 1919/20 anhielt, keimte zudem die Hoffnung auf, dass der Landesstreik in seiner Konsequenz doch noch weitreichende Sozialreformen angestossen haben könnte. Mit der wirtschaftlichen Nachkriegskrise sowie der Formierung des Bürgerblocks verflüchtigte sich die kurze Anfangseuphorie jedoch bereits in den frühen 1920er Jahren. Erst mit der neuerlichen sozialpolitischen Aufbruchsstimmung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs setzte sich die Deutung durch, der Landesstreik habe seinem bedingungslosen Abbruch zum Trotz mittel- bis langfristig positive Folgen gezeitigt. Nach 1945 nahm diese Erfolgsthese den ersten Platz im narrativen Repertoire der sozialdemokratischen Linken ein.
War der Landesstreik für die politische Linke eine gerechte und legale Form des sozialen Protests sowie eine machtvolle Demonstration proletarischer Solidarität, sahen zahlreiche Vertreter der bäuerlichen und bürgerlichen Kräfte darin einen bolschewistischen Umsturzversuch nach russischem Vorbild. Die in der bürgerlichen Bevölkerung latent vorhandenen Umsturzängste wurden fortan gezielt aktualisiert, womit antisozialistische Ressentiments geschürt sowie eine akute staatspolitische Bedrohung von links suggeriert wurden.
Erst die Bedrohungswahrnehmung im Zeitalter der Geistigen Landesverteidigung, die sozialpartnerschaftliche Annäherung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre sowie die wirtschafts- und sozialpolitischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wirkten deeskalierend und differenzierend auf den Erinnerungsdiskurs ein. Mit wachsendem zeitlichen Abstand und insbesondere nach 1945 verlor sodann das bürgerliche Revolutionsnarrativ zunehmend an Schärfe. Dies hing besonders mit der zunehmend friedvollen Gestaltung der Klassenverhältnisse und der politischen Integration der SP, vor allem aber mit der Kriegswirtschafts- und Versorgungspolitik während des Zweiten Weltkriegs zusammen. Der Kontrast zu den ungenügenden Massnahmen der bürgerlich dominierten Behörden während des Ersten Weltkriegs war unübersehbar. Wenngleich das Revolutionsnarrativ bis 1968 nicht grundsätzlich hinterfragt wurde und der Landesstreik weiterhin als historischer „Schandfleck“ galt, weckte diese Kontrastfolie nun auch im Bürgertum ein zunehmendes Verständnis für die sozialen Ursachen des Landesstreiks.
Die verhängnisvolle Wirkungsmacht des bürgerlichen Revolutionsnarrativs zeigte sich vor allem darin, dass – angesichts der Suggestion einer anhaltenden revolutionären Bedrohungslage – eine Entkoppelung des Landesstreiks von seinen eigentlichen sozialpolitischen und ökonomischen Ursachen stattfand. Gleichzeitig wurde das Versagen der bürgerlich dominierten Kriegswirtschafts- und Versorgungspolitik während der Zeit des Ersten Weltkriegs verschleiert. Die vermeintlichen Ursachen des Landesstreiks wurden dagegen zumeist monokausal auf die Agitation und die Klassenkampfrhetorik linker „Scharfmacher“ zurückgeführt, welche die kriegsbedingten sozialen Missstände und die Überforderung der Bundesbehörden mit einer gezielten Problempromotion für den Umsturz instrumentalisiert hätten. Die fortwährend kultivierte Angst vor einer möglichen Wiederholung der Ereignisse vom November 1918 führte in der Zwischenkriegszeit dazu, dass Staatsschutzmassnahmen gegenüber sozialen Reformen priorisiert wurden. Dass die politische Integration der Sozialdemokratischen Partei auf Bundesebene während der Zwischenkriegszeit weitgehend blockiert war, hing ebenfalls massgeblich mit dem ihr seit 1918 anhaftenden Stigma einer landesverräterischen Umsturzpartei zusammen.