Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stephan
Scheuzger
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2015/2016
Abstract
Nachdem das chilenische Militär im September 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende geputscht hatte, gelang es dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) innert kurzer Frist, einer Delegation Zutritt nach Chile zu verschaffen. Die Delegierten konnten so die politischen Gefangenen, die nach dem Putsch in diversen Haftorten wie dem Fussballstadion Estadio Nacional, militärischen Lagern und zivilen Gefängnissen festgehalten wurden, besuchen. Sie verteilten dabei Hilfsgüter und hielten ihre Beobachtungen in Berichten zu Handen der Behörden fest. Die Mission des IKRK fand in einem stark politisierten Umfeld statt, in welchem sich Menschenrechtsund Solidaritätsgruppierungen gegen die vom Militär losgetretene Repressionswelle zur Wehr setzten, indem sie die vom Militär verübten Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Exekutionen öffentlich anklagten. Die Geschichte dieses Widerstands ist mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppierungen historiographisch bereits ausführlich untersucht worden, wobei viele Studien die Existenz eines Netzwerks hervorheben.
Die Masterarbeit untersucht die Rolle des IKRK im Umgang mit der Repression der chilenischen Militärdiktatur für die Jahre 1973 bis 1975. Sie behandelt damit eine Phase der Diktatur, in der die Repression besonders ausgeprägt war. Der Fokus wird hierbei erstens auf die Besuche in den Haftorten und auf die Verhandlungen des IKRK mit den Behörden in dieser Sache gelegt. Zweitens wird die Zusammenarbeit mit anderen NGOs, internationalen Organisationen, Regierungen und Rotkreuzorganisationen untersucht. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei dem Zusammenhang der Konzepte der Menschenrechte und des Humanitarismus und der Verortung des IKRK innerhalb ebendieser. Ebenso beleuchtet die Arbeit die Rolle des IKRK innerhalb des Netzwerks des Widerstands gegen das Regime. Als hauptsächliche Quellengrundlage dienen die Quellenbestände im Archiv des IKRK, bestehend aus den Korrespondenzen zwischen der IKRK-Delegation in Santiago de Chile und dem Hauptquartier in Genf, aus Korrespondenzen ebendieser mit den chilenischen Behörden und mit weiteren Gruppierungen sowie aus den von der Delegation verfassten Berichten zu den Besuchen in den Haftorten. Daneben werden auch Quellen aus dem Schweizerischen Bundesarchiv und per Internet zugängliche Quellen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure herangezogen. Die Quellen werden nach hermeneutischer Methode bearbeitet.
Bezüglich der Besuche der Delegierten in den Haftorten lassen sich verschiedene Phasen ausmachen. Während die Delegierten in den ersten Monaten besonders weitreichenden Zugang erhielten, wurde dieser ab Anfang 1974 zunehmend eingeschränkt. Dies koinzidierte mit einer zunehmenden Spezifität in der Repression, die an der Gründung des Geheimdiensts DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) festgemacht werden kann, sowie mit einem wachsenden Konflikt der Delegierten mit dem Hauptquartier in Genf bezüglich der zu verfolgenden Politik. Während die Delegierten sich ideologisch dem Konzept der Menschenrechte annäherten, wurde in Genf ein unparteiischer Humanitarismus vertreten. Im Juni 1974 wurde darum die gesamte Delegation abgezogen und neu besetzt. Damit wurde auch das Konfliktpotential zwischen Delegation und Regime reduziert. Ab 1975 standen die Delegierten in Kontakt mit der DINA, sie konnten allerdings nur einen der Haftorte des Geheimdienstes regelmässig besuchen. Die Berichte, die die Delegierten verfassten, weisen auf die problematischen materiellen Bedingungen in den Haftorten hin sowie auf Misshandlungen und Folter, denen die Gefangenen insbesondere während der Verhöre ausgesetzt waren. Ein hoher Anspruch an Objektivität führte dazu, dass derartige V orwürfe nur erwähnt wurden, wenn sie von den Delegierten selbst – beispielsweise anhand sichtbarer Folterspuren – bestätigt werden konnten. In dieser Hinsicht unterschied sich das IKRK klar von Menschenrechtsorganisationen. Da auch ein Informationsaustausch zwischen IKRK und anderen Organisationen nur sehr beschränkt stattfand, kann das IKRK nicht als Teil eines Netzwerks des Menschenrechtsaktivismus beschrieben werden. Zu einer Zusammenarbeit des IKRK mit anderen Organisationen kam es hingegen im Rahmen eines Programms zur Freilassung und Exilierung politischer Gefangener, das ab September 1974 von der chilenischen Regierung initiiert wurde.
Die Mission des IKRK in Chile war geprägt durch die – speziell von der Direktion in Genf vertretene – Bestrebung, unparteiisch und humanitär aufzutreten. Die Mission geriet dadurch in Kritik von Organisationen und Personen, die gegenüber der Militärdiktatur eine eindeutigere Stellungnahme als angebracht erachteten. Gleichzeitig gelang es dem IKRK durch seine völkerrechtlich legitimierte, unparteiische Sonderrolle, weitreichenderen Zugang zu den politischen Gefangenen zu erhalten als allen anderen Organisationen. Teilweise gewichtige Konzessionen an die Politik des Regimes waren ein Mittel, um diesen Zugang zu sichern.