Zur Zeit ist eine erhöhte Aufmerksamkeit an Themen der Migrationsgeschichte in der Schweiz zu erkennen. Dies zeigt sich auf der einen Seite an einer Reihe von wissenschaftlichen Publikationen zum Thema. Neuere Forschungsarbeiten wenden sich zunehmend auch der Perspektive der Migrantinnen und Migration zu und betrachten das Handeln und die Interessen der Zugewanderten selbst. Auf der anderen Seite legen es die aktuellen migrationspolitischen Debatten nahe, mit einem historischen Blick auf Migrationsbewegungen in der Schweiz die heutigen öffentlichen Auseinandersetzungen um Zuwanderung und Integration zu ergänzen.
Unter diesen Vorzeichen organisierte die ECAP Zürich in Zusammenarbeit mit der Fondazione Pellegrini Canevascini im Januar eine Studientagung unter dem Titel „Migration und Weiterbildung in der Schweiz nach 1950“, in den Räumen der seit 1970 in Zürich tätigen italienischen Weiterbildungsorganisation ECAP in Zürich. Thema der Veranstaltung war, Migrantinnen und Migranten als Akteurinnen und Akteure ihrer eigenen Geschichte sichtbar zu machen. Wie italienische Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den 1960er- und 1970er-Jahren Weiterbildungsangebote initiierten, ist ein herausragendes Beispiel dafür.
Im ersten Teil der Veranstaltung stellten drei Historiker ihre neueren Publikationen vor, die sich mit der italienischen Einwanderung in der Schweiz nach 1950 beschäftigen. FRANCESCO GARUFO (Neuchâtel) präsentierte erstens ein aktuelles Themenheft der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte, deren Beiträge oben genannten Perspektivenwechsel hin zu den Migrantinnen und Migranten als Akteure ihrer Geschichte vollziehen.1 Zweitens wies Garufo auf seine kürzlich erschienene Dissertation („L’emploi du temps“) zur Bedeutung der Immigration für die Uhrenindustrie der Schweiz hin.2 MATTIA PELLI (Fondazione Pellegrini Canevascini und vom Archivio Storico del Trentino) stellte einen von ihm veröffentlichten Sammelband vor, deren Beiträge die Vielfalt von historischen Quellen aus den Federn der Migrantinnen und Migranten selbst aufzeigt.3 Wie die Aktivitäten der Migrantinnen und Migranten auch Teil einer Arbeitergeschichte sind, legte Pelli anhand seiner Studie zu den Arbeitskämpfen in den Stahlwerken von Monteforno dar.4 PAOLO BARCELLA von der Universität Bergamo präsentierte seine Studien zu den Bildungsaktivitäten der italienischen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz nach 1950, die sowohl Weiterbildung der zugewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter wie auch die Beschulung derer Kinder umfasste.5 Die Entstehung der ECAP in der Schweiz war Teil dieser Geschichte.
Der zweite Teil der Veranstaltung umfasste ein Podiumsgespräch zwischen diesen drei Migrationshistorikern, heutigen und damaligen Verantwortlichen der ECAP (GUGLIELMO GROSSI, GUGLIELMO BOZZOLINI, GIACOMO VIVIANI und LEONARDO ZANIER) sowie Experten der Berufs- und Weiterbildungsgeschichte (PHILIPP GONON und PHILIPP EIGENMANN, Zürich). Dabei wurde zunächst auf die damalige Bedeutung der Weiterbildungsangebote für die Handlungsfähigkeit der Migrantinnen und Migranten hingewiesen. Zudem wurden die teilweise auch sehr schwierigen Bedingungen thematisiert, unter welchen die damaligen Kurse organisiert wurden. Es folgte eine lebhafte Diskussion darüber, in welchen Aspekten sich die Verhältnisse inzwischen gewandelt haben. Herausforderungen, die sich damals bei der Organisation von Weiterbildungsangeboten in der Emigration zeigten, wurden mit den heute beobachteten Schwierigkeiten verglichen. Konstanten wurden insbesondere bei der Bedeutung des Spracherwerbs in der Emigration und den hohen Hürden im Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe festgestellt.
_____________________________________
Anmerkungen
1 Schweizerische Zeitschrift für Geschichte SZG, 65 (2015), 1: Le global au village: stratégies, espaces et réseaux transnationaux des migrants italiens en Suisse, im Migrationsgeschichte(n) in der Schweiz: ein Perspektivenwechsel, hrsg. von Irma Gadient und Damir Skenderovic.
2 Francesco Garufo: L'emploi du temps. L'industrie horlogère suisse et l'immigration (1930-1980). Lausanne 2015.
3 Mattia Pelli (Hrsg.): Archivi migranti. Tracce per la storia delle migrazioni italiane in Svizzera nel secondo dopoguerra. Trento 2014.
4 Mattia Pelli: Monteforno. Storie di acciaio, di uomini e di lotte. Lugano 2014.
5 Paolo Barcella: „Venuti qui per cercare lavoro“. Gli emigrati italiani nella Svizzera del secondo dopoguerra. Bellinzona 2012; Paolo Barcella: Migranti in classe. Gli italiani in Svizzera tra scuola e formazione professionale. Verona 2014.
Tagungsübersicht:
Francesco Garufo (Universität Neuchâtel) - Le global au village: stratégies, espaces et réseaux transnationaux des migrants italiens en Suisse, im Migrationsgeschichte(n) in der Schweiz: ein Perspektivenwechsel, hrsg. von
Irma Gadient und Damir Skenderovic, SZG 65/1, 2015.
Mattia Pelli (Archivio Trentino / Fondazione Pellegrini Canevascini) - Archivi migranti: tracce per le storia delle migrazioni italiane in Svizzera nel secondo dopoguerra, Trento/Bellinzona, Archivio Trentino / Fondazione Pellegrini Canevascini, 2014.
Paolo Barcella (Universität Bergamo) - Migranti in classe. Gli italiani in Svizzera tra scuola e formazione professionale, Ombre Corte, Verona, 2015.
Podiumdiskussion:
Philipp Gonon (Unversität Zürich)
Gugliermo Grossi (ECAP)
Gugliermo Bozzolini (ECAP)
Giacomo Viviani (ECAP)
Leonardo Zanier (ECAP)