Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Jakob
Tanner
Institution
Neuzeit
Ort
Zürich
Jahr
2017/2018
Abstract
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 verabschiedeten die schweizerischen National- und Ständeräte fast einstimmig den „Bundesbeschluss betreffend Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechthaltung der Neutralität“. Zwar hatten auch die übrigen Staaten Europas in den ersten Tagen des aufziehenden Kriegs ihre Regierungen und Armeekommandos mit ausserordentlichen politischen Kompetenzen ausgestattet, der schweizerische Beschluss war jedoch nicht nur in Relation zum ausgesprochen föderalistischen und liberaldemokratischen Staatswesen der Eidgenossenschaft aussergewöhnlich, er ging über die in den Nachbarländern gefassten Ermächtigungsgesetze sogar noch hinaus, gewährte das Parlament dem Bundesrat doch explizit eine „unbeschränkte Vollmacht zur Vornahme aller Massnahmen, die für die Behauptung der Sicherheit, Integrität und Neutralität der Schweiz und zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes, insbesondere auch zur Sicherung des Lebensunterhaltes, erforderlich werden“.
In den mehr als vier Jahren eines globalen und mit den Methoden der Industriegesellschaft geführten Krieges, der jedes bislang gekannte Mass an Brutalität und Totalität sprengte, griff die schweizerische Regierung kraft ihrer Vollmachten immer intensiver in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft eines Landes ein, das aufgrund seines neutralen Status von dem Geschehen auf den Schlachtfeldern verschont, von den ökonomischen und politischen Auswirkungen des Konflikts jedoch umso mehr betroffen wurde. Mit einem rasch anwachsenden Geflecht von Notverordnungen beschränkten Bundesrat und Departemente die Handels- und Gewerbefreiheit, versuchten Ein- und Ausfuhr zu steuern, erliessen Zensurbestimmungen für die Presse und ergriffen Massnahmen gegen die zunehmende Knappheit von Energie, Rohstoffen und Waren des täglichen Gebrauchs. Besonders in der zweiten Hälfte des Kriegs führte dies zu einem Ausbau von Personal und Befugnissen der Bundesverwaltung, die in ihrer Regulierungstätigkeit eng mit Privatwirtschaft und Verbänden zusammenarbeitete.
Die im Rahmen des Sinergia-Projekts „Switzerland in the First World War: Transnational Perspectives on a Small State in Total War“ des Schweizerischen Nationalfonds entstehende Dissertation versucht, dieses „Vollmachtenregime“ historisch zu erschliessen und in einen transnationalen Kontext zu setzen. Dabei steht sowohl die notrechtliche Praxis bei der Bewältigung der im Krieg aufgetretenen Problemlagen als auch die längerfristige Wirkung, welche diese Praxis im institutionellen Gefüge und der politischen Kultur der Schweiz entfaltete, im Fokus. Besondere Aufmerksamkeit wird ausserdem der These einer schrittweisen Preisgabe liberaler Traditionen im durch das Kriegsgeschehen herausgeforderten Bundesstaat, der Interaktion öffentlicher, privater und militärischer Akteure in der Politik sowie dem wachsenden Widerstand gegen die bundesrätlichen Vollmachten gewidmet, der in engem Zusammenhang mit der schweizerischen Kontroverse um Neutralität und Identität im Weltkrieg stand.