Gefängnisse in der Kolonie, koloniale Gefängnisse. Eine Verflechtungsgeschichte der britisch-indischen Haftanstalten von den 1820er bis in die 1880er Jahre

AutorIn Name
Michael
Offermann
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stephan
Scheuzger
Kodirektion
Prof. Dr. Harald Fischer-Tiné, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2017/2018
Abstract


„Strange, that wherever the English establish their rule, the two first public erections are almost invariably a jail and a gallows! The French manage these things better. Their first public erection is a Theatre. Their Bastilles and guillotines may come afterwards; but it is certain they do not make so bad a beginning as we do!“ (Hervorhebungen im Original)

Mit dieser ironischen Feststellung kommentierte die Times of India vom 16. Mai 1849 die Errichtung eines neuen Gefängnisses in Lahore, der Hauptstadt des Punjabs, der im März desselben Jahres endgültig von der East India Company annektiert worden war. Mit der kolonialen Herrschaft habe ein neues Regime des Strafens eingesetzt, für das stellvertretend der Galgen und das Gefängnis stünden. Das Zitat verweist auf die Transformationen des Strafvollzugs, die mit der Kolonialherrschaft einhergingen und die in der Dissertation vor dem Hintergrund der globalen Diskussion über Gefängnisreformen im 19. Jahrhundert untersucht werden.

Methodisch bedient sich die Arbeit eines wissensgeschichtlichen Zugriffs, der nach den Diskursen über die Formen und Zwecke des Strafens innerhalb der Kolonialverwaltung fragt und ihre grenzüberschreitenden Bezüge nachzuzeichnen versucht, um auch die (Nicht-)Wirkungen globaler Verflechtungen für lokale Veränderungen einschätzen zu können. Angesichts einer mangelnden alternativen Überlieferung müssen als Quellenbasis vorrangig die Akten der britischen Kolonialverwaltungen dienen, die in der Tiefe zum Thema Strafvollzug noch nicht ausgeschöpft sind. Besonders die Fokussierung auf die drei Provinzen, Madras, die Nordwestprovinzen und den Punjab, ermöglicht neue Erkenntnisse und den Vergleich lokaler Praktiken im hochfragmentierten Britisch-Indien.

Am Beispiel der kaum beachteten südindischen Provinz Madras werden im ersten Kapitel die Voraussetzungen des Gefängniswesens in den 1820er Jahren beleuchtet. So wird deutlich, dass die Haft keine genuin koloniale Neuerung war. Formen der Arretierung und Einsperrung waren in Südasien durchaus zuvor bekannt. Entscheidend war aber, dass die Haft eine neue Bedeutung annahm. Allerdings geschah diese Transformation nicht unter den Gesichtspunkten einer zunehmenden Humanisierung des Strafens, sondern die Briten griffen erst dann in den Strafvollzug ein, wenn es ihnen politisch klug erschien. Formen und Vollzug des Strafens wurden an Überlegungen der britischen Souveränität über koloniale Subjekte geknüpft und bis in die 1820er Jahre hatte die Kolonialmacht nur ein geringes Interesse, das Innere der Gefängnisse zu regulieren.

Der Kolonialismus sorgte jedoch für eine Globalisierung der Diskussionen um die Gefängnis- und Strafrechtsreformen. Zeitgleich mit dem Wiedererstarken des Gefängnisreformdiskurses in Europa und den USA in den 1820er Jahren, und damit früher als bislang angenommen, wurden mit Verweis auf europäische Diskussionen auch in Südindien Gefängnisreformen erwogen, die sich explizit auf das gleichzeitig in Grossbritannien diskutierte utilitaristische Reformprogramm bezogen. Diese Entwicklungen bildeten die Voraussetzung für die in den 1830er Jahren verstärkt einsetzenden Versuche, ein Reformprogramm für die indischen Haftanstalten zu entwickeln. Die dabei entstandenen Quellen ermöglichen den Einblick in die Vorstellungen eines guten Gefängniswesens, die unter lokalen britischen Beamten in Indien zirkulierten. Dadurch lässt sich die Reichweite des globalen Gefängnisreformdiskurses der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermessen, der auch einen kolonialen Raum wie Indien zunächst nicht prinzipiell ausschloss. Wiederholt postulierten Kolonialbeamte die Möglichkeit und Wünschbarkeit, Gefängnisreformen nach britischem und US-amerikanischem Vorbild in Indien umzusetzen. Ganz dem Selbstverständnis der „Gefängniskunde“ der Zeit entsprechend, die sich als Wissenschaft mit universell anwendbaren Erkenntnissen verstand, wurden auch dieselben technischen Mittel wie in Europa als geeignet empfunden: Strafvollzug in einer geschlossenen Anstalt, die Einzelhaft, die Tretmühle, ein straff reguliertes Tagesprogramm von Arbeit, Erziehung und einfachster Ernährung. „Besserung“ und Repression sollten sich nicht gegenseitig ausschliessen, sondern das Gefängnis sollte mittels eines methodischen Strafvollzugs abschreckend wirken und „gebesserte“ Häftlinge entlassen.

In den 1840er Jahren machten sich die Lokalregierungen daran, in ihren Herrschaftsgebieten ein solches Programm umzusetzen. Vielfach wurden diese Versuche als lokal begrenzte, vorläufige „Experimente“ deklariert. Dies zeugte nicht vom selbstherrlichen Charakter einer autoritären Kolonialmacht, die nach Belieben die Kolonialsubjekte als Versuchsobjekte heranzog. Im Gegenteil reflektierte die Rede vom „Experiment“ die Schwäche und Unsicherheit der kolonialen Herrschaft. Eine Reihe von Versuchen, Strafverschärfungen durch die Organisation gemeinsamer Mahlzeiten zu erreichen, führten in den 1840er Jahren zu einer Serie von Gefangenenrevolten, wobei sich zeitweise die Bevölkerung mit den Gefangenen solidarisierte. Diese Aufstände und die extremen Mortalitätsraten in den Gefängnissen verunsicherten die Briten. Die hohen Kosten, die mit einem flächendeckenden Bau von Gefängnissen und Einzelhaftplätzen verbunden waren, sorgten zusätzlich dafür, dass die praktischen Ergebnisse des Reformprojekts sich bis 1845 nur auf wenige Modellanstalten beschränkten.

Jenseits ihrer Idealvorstellungen war den kolonialen Administratoren schmerzlich bewusst, dass ihre Anstalten kaum ihren eigenen Ansprüchen genügten. Regelmässig wiederkehrende gesamtindische Untersuchungskomitees kamen stets auf dieselben Mängel zurück: Überbelegung, Mangelversorgung und schlechte hygienische Zustände resultierten in anhaltend hohen Sterblichkeitsraten, die nur mühsam in den Griff zu bekommen waren. Gleichzeitig fanden Häftlinge wie auch indisches und europäisches Personal genügend Möglichkeiten, sich den Regeln zu widersetzen. Sogar innerhalb der Musteranstalten genügte die Kontrolle der Kolonialmacht häufig nicht, um die Verhältnisse nach ihren Vorstellungen zu ordnen.
In der Folge kreiste der gefängniskundliche Diskurs innerhalb der Kolonialverwaltung zunehmend um die Andersartigkeit Indiens und indischer Gefangener. War dieser Strang des Diskurses schon seit Beginn der Reformdiskussionen präsent, wurde er mit der Institutionalisierung der Gefängnisverwaltung zunehmend dominanter. Mit den Gefängnisinspektoren wurden ab den 1840er Jahren in den einzelnen Provinzen hauptamtliche Strukturen für die Gefängnisverwaltung geschaffen. Zwar sahen sich einige dieser Inspektoren durchaus den Erkenntnissen der britischen und europäischen Gefängniskunde verpflichtet, betonten aber zunehmend die Andersartigkeit Indiens. Dies wies ihnen eine Schlüsselrolle zu, indem sie die allgemeinen Prinzipien des reformierten Gefängnisses für die Besonderheiten des kolonialen Raums anwendbar machten. Einige dieser Beamten wie James Pattison Walker oder Frederic Mouat versuchten, mit ihren Erfahrungen als Teil der gefängniskundlichen community anerkannt zu werden, blieben aber letztlich in peripherer Rolle. Strafvollzugswissen aus Britisch-Indien, immerhin eine der numerisch grössten Gefängnispopulationen der Welt, wurde sowohl in Grossbritannien als auch in anderen britischen Kolonien kaum rezipiert. Dies galt auch für das Wissen um Repressionstechniken wie Körperstrafen, das im Untersuchungszeitraum ebenfalls eine Modernisierung erfuhr.

In der Zusammenschau wird deutlich, wie zufällig der Entwicklungsprozess des Gefängnisses in der Kolonie verlief. Strategische Überlegungen über den Zweck des Gefängnisses als Element kolonialer Herrschaftssicherung wurden erstaunlich selten explizit angestellt. Vielmehr erscheint das Gefängnis als ständiger Krisenherd, der die Autoritätsansprüche der Kolonialherrschaft permanent zu unterminieren drohte.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken