Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2014/2015
Abstract
Die Dissertation, die im Rahmen des SNF- Projekts „The medical practice of Caesar Adolph Bloesch (1804-1863)“ entstanden ist, widmet sich ärztlicher Schreibarbeit. Im Zentrum steht das 57 Bände umfassende Journal des Arztes, Historikers und Politikers Cäsar Bloesch aus Biel. Es handelt sich dabei nicht um ein intimes Tagebuch, sondern um die dreissig Jahre umspannende Buchhaltung von Bloeschs ärztlicher Praxis. Eine sperrige Quelle, stark repetitiv und zum Teil sehr schwer leserlich, geschrieben vorwiegend für den eigenen Gebrauch, um in einem strengen Arbeitsalltag Ordnung zu halten. Mit Blick auf dieses umfangreiche Schreibprodukt wird erstens die Frage gestellt, welche Bedeutung die regelmässige und langjährige Buchführungspraxis für den ärztlichen Alltag hatte. Zweitens wird das ärztliche Schreiben nach Verbindungen zu politischen und wissenschaftlichen Ereignissen und Diskursen wie auch nach seiner verwaltungs- und professionsgeschichtlichen Bedeutung befragt.
Ein erster Analyseschritt macht die Quelle selbst zum Forschungsgegenstand. Hier zeigt sich, inwiefern Bloeschs alltägliches Schreiben den Konventionen einer etablierten Praxis folgte und inwiefern es als Produkt individueller kontingenter Schreibprozesse zu betrachten ist. Dabei werden der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund der Journalführung und deren Bedeutung in der klinischen Ausbildung des frühen 19. Jahrhunderts beleuchtet. Bloeschs Arbeit am Journal beginnt im Moment seines Berufseinstiegs. Die schriftlichen Spuren seiner alltäglichen Verunsicherung am Krankenbett werden ebenso thematisiert wie die Überwindung dieser anfänglichen Wissenskrise und das Aufkommen von Routine. In der Reflexion des Routinebegriffs wird das Journal, über Luhmann hinausgehend, nicht als schlichtes Verwaltungssystem im Sinne eines Programms beurteilt, sondern vielmehr als ein sich stetig verändernder Rahmen, der Schreiben und Denken des Verfassers strukturieren sollte.
Nebst den sich verstetigenden alltäglichen Einträgen verfasste Bloesch monatliche und
jährliche Rückblicke, die einen Überblick über Gelungenes boten oder halfen, Misslungenes zu verarbeiten. Diese Einträge zeugen von einem gelehrten Anspruch und einem zunehmenden Reflexionsniveau des Schreibers. Schliesslich wurde gegen das Lebensende hin das Journal auch zum Ort der Selbstreflexion, wenn Bloesch dieses dazu nutzte, um eine autobiographische Rückschau zu verfassen oder den Tod seiner Frau zu beklagen. Es diente somit nicht nur der Patientenverwaltung, sondern immer mehr auch der Selbstverwaltung. Die ärztliche Buchführung wirkte disziplinierend, indem sie zur regelmässigen schriftlichen Reflexion aufrief. Sie entsprach jenem Anspruch nach Gelehrsamkeit und Wissenschaftlichkeit, der die akademischen Ärzte von den Praktikern unterscheiden sollte. Als Produkt jahrelanger Arbeit bildete das Journal Tugenden wie Fleiss, Ehrlichkeit, Vernunft und Erfahrung ab und repräsentierte dadurch den guten Arzt.
In einem zweiten Analyseschritt wird ein Ebenenwechsel vom individuellen zum kollektiven Handeln vorgenommen. Der Blick richtet sich dabei auf die kantonalbernische Ärztegesellschaft und deren Bezirkssektion Biel-Seeland und bezieht ein entsprechend erweitertes Quellenkorpus mit ein. Es wird nach den Praktiken und Diskursen der Gemeinschaftsbildung der Ärzte gefragt, nach den Aushandlungsprozessen und Konflikten einer sich formierenden Berufsgruppe. Die politischen Entwicklungen im Kanton Bern in der spannungsgeladenen Zeit zwischen dem liberalen Umsturz 1830/31 und den Unruhen nach der Wahl der Konservativen um 1851 bis zur Einführung einer neuen Medizinalordnung 1863, werden in die Analyse einbezogen. Anhand von Diskussionen über Status, Rechte und Pflichten der Ärzte, aber auch über die Schaffung der kantonalen Gesundheitsverwaltung, werden einerseits die widersprüchlichen Interessenlagen innerhalb der Ärzteschaft, andererseits das komplexe Verhältnis der unterschiedlich positionierten Ärzte zur entstehenden modernen Berner Kantonsverwaltung aufgezeigt. So kann aus diesem zweiten Teil gefolgert werden, dass die Ärzteschaft des 19. Jahrhunderts keineswegs jene einmütige standespolitische Einheit bildete, wie sie die Historiografie oftmals suggeriert. Unterschiedliche, in der Idee des Nationalen verankerte wissenschaftliche Kulturen und Traditionen spalteten die Ärzte, wie auch staatspolitische Grundhaltungen, amtliche Funktionen, lokale Interessen und unterschiedliche soziale Hintergründe.
Die Linsenöffnung des zweiten Teils bettet Bloeschs Selbstverständnis als Arzt und damit auch sein Schreiben in einen breiteren Kontext ein und erlaubt im Anschluss eine Betrachtung des Journals aus neuem Blickwinkel. So nimmt sich die Dissertation in einem dritten Analyseschritt wieder enger der Hauptquelle an. Das Journal erscheint nun als Dreh- und Angelpunkt einer ärztlichen Praxis, die nicht auf die Begegnung zwischen einem Arzt und seinen Patientinnen und Patienten beschränkt bleibt, sondern zunehmend mit standespolitischen Ansprüchen und Anstrengungen, mit der Formation staatlicher Verwaltung und mit einem sich an der Öffentlichkeit orientierenden Selbstverständnis des Arztes verwoben ist. Es diente nicht nur der freiwilligen Administration alltäglicher Erfahrung, sondern vielmehr auch als Ablage vorgeschriebener und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend nachgefragter Schreibformate. So finden sich darin medizinalstatistische Aufstellungen neben Impftabellen, ärztlichen Zeugnissen oder gerichtsärztlichen Gutachten. Diese verschiedenen Formen ärztlichen Beobachtens und Schreibens werden in ihrem jeweiligen historischen Kontext verortet und nach ihren Implikationen für das ärztliche Wissen und die ärztliche Praxis befragt.
Die Verschränkung von Wissenschaft, Verwaltung und Politik, wie sie für das 19. und frühe 20. Jahrhundert in der Forschung unter dem Paradigma der Verwissenschaftlichung gefasst worden ist, darf nicht als ein einseitiges Durchdringen, sondern muss vielmehr als ein gegenseitiges Konstituieren gedacht werden. Denn die Rolle ärztlicher Experten, wie sie sich die akademischen Mediziner zu Bloeschs Zeit aneigneten, führte nicht nur zu einer veränderten staatlichen Praxis, vielmehr wirkte sich diese Rolle stark auf die ärztliche Praxis selbst aus. Das zeigt sich insbesondere an den Anforderungen, die Formate wie Tabellen und Zeugnisse an den Arzt stellten: Anforderungen, die zwar einer administrativen Logik der Kategorisierung, der Ökonomisierbarkeit und Quantifizierbarkeit gerecht wurden, damit allerdings an der Logik des praxisärztlichen Wissens, das sich am Einzelfall orientierte, vorbeizielten und die Ärzte überforderten. Gleichwohl bildeten diese Formate die materiale Grundlage ärztlicher Expertise und dienten als Vehikel des ärztlichen Machtzuwachses im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die Auseinandersetzung mit diesen Formaten zeigt, wie eng die ärztliche Diagnostik des 19. Jahrhunderts an Verwaltungsansprüche geknüpft und wie weit entfernt sie vom alltäglichen Denken und Handeln der Ärzte war.
In der Beschäftigung mit einem lokalhistorischen Akteur, der keine grossen medizinischen Entdeckungen vorweisen kann, leistet diese Dissertation einen Beitrag zur Wissens-, Medizin-, V erwaltungs-, Regierungsund Professionsgeschichte. Sie zeigt, wie Schreibarbeit dazu diente, medizinisches Wissen zu generieren, Berufserfahrung zu systematisieren und durch Selbstvergewisserung der epistemischen Unsicherheit des ärztlichen Arbeitsalltags entgegenzuwirken. Ärztliches Wissen und ärztliche Praxis, so das Fazit, wurden im 19. Jahrhundert von der sich verändernden Staatlichkeit geprägt und die Ärzte erarbeiteten sich über ihre Schreibarbeit einen zentralen Platz in Staat und Gesellschaft. Am Beispiel Bloeschs wird deutlich, wie sich in einer Zeit des Übergangs zwischen medizinischer Policey und moderner V erwaltung der Aufstieg der akademischen Ärzte und der Aufbau einer staatlichen V erwaltung co-konstruierten.