"Es ist ein grusam Ding, das so vill in disem Landt so kleinmutige halbverzwiffelte Menschen gibt, die do wegen des Irtlichen das Ewige verscherzten". Kontinuität und Wandel im kulturellen Umgang mit Suizid und Suizidalität in Luzern und Zürich im 18. und 19. Jahrhundert.

AutorIn Name
Cécile
Huber
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
André
Holenstein
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2013/2014
Abstract
Die Arbeit basiert auf einem qualitativen Quellenstudium von rund 600 Untersuchungsakten und etwa 40 zeitgenössischen Abhandlungen. Aufgrund verschiedener Forschungsbeiträgen, die auf protestantischer Seite in Abgrenzung zum Katholizismus einen milderen Umgang mit der Suizidthematik skizzierten, wurde sowohl auf theoretischer Diskursebene, als auch auf lokaler Praxisebene nach einer konfessionellen Prägung gefragt. Mittels eines kulturhistorischen Ansatzes versucht die Arbeit, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie Handlungsstrategien qualitativ sichtbar zu machen. In Luzern und Zürich gehörten Suizidfälle im 18. Jh. in die Kompetenz der Blutgerichte. Ein Suizid griff mutwillig in weltliche (Gewaltmonopol) und göttliche Rechte (Vorsehung) ein. Hatte ein Suizident überlebt, konnte er mit Kirchenbusse, Zuchthaus und Verbannung bestraft werden. Bei einem erfolgreichen Suizid waren Bestattungssanktion, Leichenstrafe und/oder Erbkonfiskation die Regel. In einer vom animistischen Weltbild geprägten Gesellschaft war die Berührung von Suizidleichen mit der Vorstellung einer Kontamination von Unehrlichkeit und Sünde verbunden. Selbst nach dem Wegschaffen solcher Leichen – eine Suizidleiche hätte den sakralen Raum des Friedhofs verunreinigt – galten diese noch als gefährlich: Ein Suizident war dazu verdammt, solange in einem Zwischenreich zu wandeln, bis sein natürlicher Tod eingetreten wäre. Bis dahin konnte er der Gemeinschaft auf vielfältige Weise schaden. In Luzern wurden deshalb die meisten Leichen – oft in Kombination mit der Tatwaffe – unter den Hochgerichten, in Zürich ausserhalb des Siedlungskerns an abgelegenen Orten verscharrt. In dieser Praxis widerspiegelt sich eine Kombination von postmortaler Bestrafung, inszenierter Vergeltung und Abwehrzauber. Diese rituelle Beseitigung und die damit verbundene Konsolidierung der Gemeinschaft waren keinesfalls von oben oktroyiert, sondern stützten sich in beiden konfessionellen Lagern auf einen breiten Konsens. Im Rahmen der aufklärerischen Debatten um die Rolle des Menschen, das Verhältnis zwischen Körper und Seele sowie der Neupositionierung der Relevanz von Diesseits und Jenseits rückte die Suizidproblematik in den Fokus zahlreicher Gelehrten. Bestrafungspraktiken wurden zunehmend als abergläubisch, unvernünftig und unnütz kritisiert. Positionen wurden laut, die einen Suizid nicht als einen kriminellen und sündhaften Akt deklarierten, sondern als Ausdruck vielfältiger Krankheiten. In Kombination mit dem Hygienediskurs konnte sich so Ende des 18. Jahrhunderts allmählich das Prinzip der stillen Bestattung durchsetzen. Ausgenommen von dieser Praxis waren Randständige, die mehrfach gegen lokal vorherrschende Normen und Werte verstossen hatten und sich – in den Augen der Gemeinschaft – schon zu Lebzeiten mutwillig aus dem sozialen Gefüge entfernt hatten. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wurden zu jedem Suizidfall ausführliche Akten angelegt. Im Zentrum der Untersuchungen standen die Rekonstruktion des Lebenswandels des Verstorbenen sowie Motivzuschreibungen. Bei sämtlichen Akten des 18. Jahrhunderts nehmen christliche Deutungsmuster den grössten Raum ein. So sind es bspw. weder Krankheit, noch eine drängende ökonomische Lage, die zu einem Suizid führten, sondern vielmehr das fehlende Vertrauen in die Vorsehung Gottes, was einer Verletzung der Christenpflicht entsprach. Im 19. Jahrhundert zeigen die Untersuchungen zunehmend die Charakteristika eines Verwaltungsaktes: Prioritär war ein Ausschluss von fremder Gewalteinwirkung. Die Ächtung des Suizids blieb dennoch bestehen; Bestattungen fanden nachts statt, unter Ausschluss der Gemeinde, ohne liturgische Elemente und ohne die Möglichkeit eines Gedächtnisses . Durch die Verankerung des schicklichen Beerdigungsgebots in der Bundesverfassung 1874 und der zunehmenden Säkularisierung der Friedhöfe seit den 1830er Jahren geriet dieser Usus stärker in die Kritik. In Luzern gab dies Angehörigen von Suizidenten die Möglichkeit, auf juristischem Weg ihr Recht einzufordern; ein Fall ging deshalb bis ans Bundesgericht. In Zürich verliefen die Konfliktlinien anders; häufig protestierten lokal bewaffnete Gruppierungen gegen die Bestattung von Suizidenten, sodass die lokale Obrigkeit eingreifen musste. Die untersuchten Fälle legen nahe, dass der Wandel in der kulturellen Praxis eher als Folge von säkularisierenden Prozessen zu verstehen ist denn als Ausdruck eines grundlegenden Einstel- lungswandels – in beiden konfessionellen Lagern überdauerte die sozio-moralische Ächtung die Entkriminalisierung und Pathologisierung des Suizids deutlich, sodass von einer Hybridisierung verschiedener Deutungsmuster gesprochen werden kann. Dies schlägt sich auch in den religiös- medizinisch gemischten Therapieformen der Suizidalität in der Praxis nieder.

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