Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte auch in Bern grosse Not, nicht nur an den Gütern für den täglichen Bedarf, sondern auch an billigem Wohnraum. Eine Situation, die für die sozialen Spannungen rund um den Landesstreik von 1918 mitverantwortlich war und welche die Bundesversammlung 1919 dazu bewog, grosszügige Subventionen an Wohnbauten in Form von Baukostenzuschüssen und verbilligten Darlehen zu bewilligen, um die Situation zu beruhigen. Es waren unter anderem diese Gelder, die es möglich machten, dass die Eisenbahner Baugenossenschaft Bern eine grosse Einfamilienhaussiedlung auf dem Weissensteingut im Südwesten von Bern errichten konnte. Eine Siedlung, die sowohl in ihrer Grösse wie auch in den Baukosten sämtliche auf gemeinnütziger Basis erstellten Siedlungen in der Umgebung übertraf. Mit der Weissensteinsiedlung wurde jedoch Wohnraum geschaffen, der wegen der hohen Mietzinse und Genossenschaftsbeiträge einer gut verdienenden Schicht vorbehalten blieb. Gegen die Not an billigem Wohnraum vermochte diese Siedlung direkt also wenig auszurichten. Trotzdem erhielt das Projekt überdurchschnittlich hohe Beiträge der öffentlichen Hand zugesprochen, eine Tatsache, die den Ausgangspunkt der Studie bildete.
Es wurde danach gefragt, welche Eigenschaften die Siedlung für die beteiligten Akteure zu einem wohnungspolitisch akzeptablen und unterstützungswürdigen Modell machten. Als Arbeitshypothese wurde angenommen, dass sich die Mehrheitsfähigkeit der Siedlung vor allem durch ihre gartenstadtähnliche, sozialreformerisch motivierte Konzeption erklärt, die zugleich den bürgerlichen Wohnidealen und den moralischen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen einer gemässigten Linken entsprach. Ausgehend von dieser Hypothese wurden die Debatten bei den verschiedenen geldgebenden Behörden untersucht, aber auch nach den Motiven und Ideen der Genossenschaftsgründer gefragt – immer mit dem Ziel, aus der jeweiligen Perspektive die Deutung der Situation zu rekonstruieren, aus welcher die vergleichsweise luxuriöse Siedlung als wohnungspolitische Massnahme Sinn machte.
Die Ergebnisse sind vielfältig: Im Verwaltungsrat der SBB, der das grösste Darlehen beigesteuert hatte, eignete sich die Unterstützung von Baugenossenschaften als finanzielle Minimallösung in der ohnehin nicht prioritär eingestuften Wohnungspolitik. Der Bedarf an Wohnungen wurde von den SBB bis vor dem Landesstreik ausschliesslich an den Bedürfnissen des Bahnbetriebes bemessen. Als sich im Sommer 1918 die vormals zersplitterten Eisenbahnerverbände zu vereinen begannen und sie sich zusätzlich dem Oltener Aktionskomitee annäherten, erlangte die Unterstützung von Eisenbahnerbaugenossenschaften eine neue Bedeutung: Sie wurde zu einer billigen Alternative für die vom organisierten Personal immer häufiger eingeforderten Teuerungszulagen. In den Debatten des Grossen Rates des Kantons Bern stand die Schaffung von Arbeitsplätzen als Argument an oberster Stelle. Die Wohnungspolitik diente dort in erster Linie der Arbeitsbeschaffungspolitik. Der Bau von Wohnungen durch die öffentliche Hand fand keine Mehrheit. Viel eher bekannten sich die Kantonsparlamentarier zu einer auf einen kleinen Raum beschränkten Solidarität, wie sie in Genossenschaften vorkam. In der Expertenkommission, welche die Leitlinien einer nationalen Wohnungspolitik definieren sollte, waren vor allem zwei Verbände von wichtiger Bedeutung: Zum einen forderte der Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaues den Bau von Siedlungen nach bürgerlichem Muster, zum anderen setzte sich der Verein für industrielle Landwirtschaft und Innenkolonisation für eine Rücksiedlung der Bevölkerung in ländliche Regionen ein. Das Modell der Gartenstadt, von dem sich der Architekt Franz Trachsel inspirieren liess, entsprach den Ideen beider Interessenverbände zumindest zum Teil. Die Gründer der Eisenbahner Baugenossenschaft Bern (EBG) schliesslich sahen sich beim Bau der Siedlung auch einer moralischen Aufgabe verpflichtet. Darin spielte das bürgerliche Wohnund Familienmodell eine wichtige Rolle, jedoch nicht die einzige: Die Genossenschaft diente als Modell für eine zukünftige, gerechtere Gesellschaft und bildete den Kern für die Selbstdefinition als gemeinnützige und soziale Institution.
Die Arbeitshypothese wird von den Ergebnissen der Arbeit also nur zum Teil gestützt. Zwar war die Ausrichtung an bürgerlichen Wohnidealen und sozialreformerischen Ideen für die Mehrheitsfähigkeit von Bedeutung, ein anderer Aspekt rückt aber stärker in der Vordergrund: Die Genossenschaft spielte in allen Debatten die wichtigste Rolle dafür, dass die Siedlung mit den verschiedenen Interessen kompatibel und als adäquate Massnahme ihre Anerkennung finden konnte: Sei es als Sammelbecken verschiedener Ideale, als Rahmen für eine beschränkte Solidarität, als günstige sozialpolitische Alternative mit vergleichsweise grossem Effekt auf den Arbeitsmarkt und das Gewerbe oder als ebenfalls günstige Spielkarte im Kampf der SBB um die Gewährung von Sozialleistungen.
(Eid) Genossenschaftlich wohnen in der Not. Die Eisenbahner Baugenossenschaft Bern als wohnungspolitisches Modell in der Krise nach dem Ersten Weltkrieg
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2009/2010
Abstract