Augustin Keller war einer der radikalsten Politiker seiner Zeit. In zahlreichen über ihn publizierten Arbeiten finden sich Zitate aus seinen Briefen an seine Braut, Josephine Pfeiffer. Doch in Kellers Nachlass liegen nicht nur die von ihm verfassten Schreiben, sondern auch diejenigen aus der Handseiner späteren Frau. Fast in vollständigem Umfang ist die gegenseitige, sich ergänzende Korrespondenz aus den Jahren 1826-1832 erhalten. Josephines Briefe blieben in der Forschung allerdings bisher unbeachtet. Schreiben von Frauen berühmter Männer wecken ansonsten häufig die Neugier der Forscher und wurden dementsprechend schon oft in Arbeiten einbezogen, meistens mit dem Ziel, darin Aussagen über ihre Ehemänner und das Leben mit ihnen zu finden. Doch die vorliegende Korrespondenz enthält nicht nur Berichte und Erzählungen über den öffentlichen wie den privaten Alltag, sondern beinhaltet vor allem zahlreiche Dialoge und Auseinandersetzungen der beiden Absender über ihre Lebenssituation als junges Brautpaar. Die Arbeit greift Fragen auf, die sich dem jungen Paar in ihrer Beziehung als Probleme darstellten und deren Klärung vor ihrer Heirat unabdingbar war. Um was für Fragen handelte es sich? Wie ging das Paar sie an? Ergaben sich daraus Gespräche, Aus-einandersetzungen zwischen den beiden? Wenn ja, um welche Punkte ihrer Beziehung ging es dabei? Gab es Standpunkte, auf denen die beiden beharrten, oder fanden sie für alle umstrittenen Fragen eine Lösung? Welche Stellung erkannten sie einander in ihrer Beziehung zu? Wie sahen sie ihre eigene Rolle? Inwieweit griffen politisch liberale Haltungen in die Beziehung ein?
Im historischen Kontext und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Denkweise werden diese Fragen beantwortet. Liebe war für den Eingang einer Ehe nicht allein ausschlaggebend. Zahlreiche andere Bedingungen mussten erfüllt werden. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte dabei das Verhältnis zu den Eltern, ohne deren Einverständnis in der Regel nicht geheiratet wurde. Gesundheitliche wie materielle Faktoren entschieden mit. Von grundlegender Bedeutung war auch die religiöse Gesinnung. Die Arbeit widerspiegelt in vielen Punkten weniger das Brautpaar Josephine Pfeiffer und Augustin Keller im Speziellen, als vielmehr die Diskussionen eines jungen Paares aus der Bürgerschicht, das sich 1826 zur Heirat entschlossen hatte, aber noch einige Jahre bis dahin warten musste. Sie zeigt, wie es diese Wartezeit dazu nutzte, sich näher kennen zu lernen und sich auf das gemeinsame Leben vorzubereiten. Doch die Art und Weise, wie das Paar die verschiedenen Punkte anging und wie es sie klärte, blieb allein ihm vorbehalten. Ebenso war deren Gewichtung individuell unterschiedlich. Erst so betrachtet gibt die Arbeit auch Hinweise auf das Paar im Besonderen.
Den Gedankenaustausch und die Auseinandersetzungen zwischen Josephine und Augustin überblickend, fällt auf, dass sie sich alle innerhalb des von Recht und Gesellschaft vorgegebenen Rahmens der Rollenteilung in der ehelichen Gemeinschaft abspielten. Josephine und Augustin zogen die äussere Form ihrer künftigen Ehe nie in Zweifel. Sie war selbstverständlich. In ihren Gesprächen und Diskussionen ging es um den Gehalt der ihnen vorgegebenen Rollen, um die Stellung des Einzelnen innerhalb ihrer Beziehung. Augustin dachte Josephine dabei durchwegs eine passive Rolle zu. Seine Liebe zu ihr beruhte auf den sog. Herzenstugenden. Sie sollte zuhören, nicht korrigieren, für ihn sorgen, nicht über ihn bestimmen, Schicksalsschläge sollte sie still ertragen, nicht klagen und nicht sich dagegen auflehnen. Für seine Zeit fortschrittliche Haltungen bewies er in jenen Bereichen, die letztlich den Zielen des Liberalismus dienten, den er selber vertrat. Josephine hingegen war eine junge Frau, die sich zwar wie die meisten Frauen ihrer Zeit ihr Rollenbild verinnerlicht hatte und diesem in jeder Hinsicht zu entsprechen suchte, gleichzeitig aber darunter litt, von Augustin als Partnerin nicht höher bewertet zu werden. Die Ursache dafür glaubte sie, im zwischen ihr und Augustin liegenden Bildungsgefälle zu erkennen. In Augustin erwartete sie zwar eine Stütze und einen Beschützer, sie wollte von ihm geführt und angewiesen werden, ihm aber auch ebenbürtige Gesprächspartnerin sein. „Behandle mich nicht wie ein Kind“, forderte sie Augustin auf. Gegenseitige Offenheit, Vertrauen und Achtung bildeten für sie die wichtigsten Grundlagen der Ehe. Dementsprechend informierte sie sich und bildete sich weiter. Augustins Bedürfnissen wie den gesellschaftlichen und rechtlichen Erfordernissen passte sie sich nur so weit an, als sie nicht zur Selbstaufgabe und folglich zum Verlust der Selbstachtung führten. Konflikte waren somit unvermeidbar. Augustin musste lernen sich mit ihr auseinanderzusetzen. Ein heftiger Streit im religiösen Bereich führte kurz vor der Heirat beinahe zum Bruch. Die Haltung, die Augustin später in der Politik durchsetzte, vertrat er auch in der Ehe. Er lehnte die Bräuche und Einrichtungen der katholischen Kirche ab, während Josephine sie aufrecht hielt. Als rationaler Christ stand er der volkstümlich traditionell praktizierenden Katholikin gegenüber. Josephine beharrte darauf, ihren Glauben so zu leben, wie sie es für richtig hielt. Sie wollte ihm seinen Glauben lassen, wenn er dafür den ihren respektierte. Im Gegensatz zu religiösen Themen kam es auf politischer Ebene zu keiner Diskussion zwischen den beiden.
Alle vom Paar angesprochenen Fragen stehen charakteristisch für die Denkweise seiner Zeit, für die durch Kirche, Gesellschaft und Recht vorgegebenen Normen und Regeln hinsichtlich der Ehe an sich. Der Schritt in die Ehe war endgültig und unwiderruflich, Rollen- und Aufgabenteilung festgelegt und unabänderlich. Eine gründliche gegenseitige Prüfung war somit gerechtfertigt, ja notwendig. Im Falle von Josephine Pfeiffer und Augustin Keller entsteht ein für das heutige Verständnis ambivalentes, vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Sichtweise aber durchaus stimmiges Bild der Ehe.