Die Legislativkommissionen der schweizerischen Bundesversammlung

AutorIn Name
Ruth
Lüthi
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Wolf
Linder
Institution
Institut für Politikwissenschaft
Ort
Bern
Jahr
1997/1998
Abstract

Welchen Einfluss hat die Ausgestaltung von politischen Institutionen auf den Entscheidungsprozess und auf das Verhalten von Politikerinnen und Politikern? Diese Frage beschäftigt die Politikwissenschaft seit einigen Jahren wieder vermehrt. Waren institutionelle Fragen durch das Interesse am Verhalten der politischen Akteure etwas in den Hintergrund gedrängt worden, erlebt nun der sogenannte "neue lnstitutionalismus" einen Boom.

 

Die vorliegende politologische Dissertation beschäftigt sich mit dem Einfluss von Institutionen. Die 1991 von den eidgenössischen Räten beschlossene Parlamentsreform bietet Gelegenheit, der Frage der Auswirkung von institutionellen Reformen nachzugehen. Wurden die wichtigsten Geschäfte der Bundesversammlung bis zu diesem Zeitpunkt vor allem von ad hoc eingesetzten Kommissionen vorberaten, so brachte diese Reform ein System von 10 ständigen, thematisch spezialisierten Kommissionen. Die Mitglieder des Nationalrates werden seither für eine Legislaturperiode in ein bis zwei, die Mitglieder des Ständerates in drei bis vier Kommissionen gewählt. Die Reformer und Reformerinnen erhofften sich von dieser Neugestaltung des Kommissionensystems eine Stärkung des parlamentarischen Sachverstandes. Das Parlament sollte ständig am Ball bleiben und somit eine stärkere Rolle im politischen Entscheidungsprozess spielen können. Sind ihre Hoffnungen erfüllt worden? Hat somit die institutionelle Neuerung den Entscheidungsprozess verändert?

 

Um diese Fragen zu beantworten, wurde die gesamte Tätigkeit der mit Gesetzgebung beschäftigten Kommissionen der Bundesversammlung zwischen 1990 und 1994 empirisch erfasst. Somit umfasst der Zeitraum die zwei Jahre vor und die zwei Jahre nach der Reform (1990/91 bzw. 1993/94). Das Jahr 1992 kann als Übergangsjahr bezeichnet werden, waren doch hier bereits die neuen Kommissionen aktiv, jedoch auch noch ad hoc Kommissionen an der Arbeit. Es wurden Daten zu 680 Parlamentsgeschäften und 324 parlamentarischen Vorstössen erhoben. Um weitere Informationen zu erhalten, wurden Interviews mit 30 Parlamentsmitgliedern sowie 13 Kommissionssekretären und Kommissionssekretärinnen durchgeführt. All diese Daten erlaubten, die Tätigkeit der Legislativkommissionen der Bundesversammlung vor und nach der 1991 beschlossenen Parlamentsreform systematisch zu vergleichen.

 

In einem ersten Schritt wurde festgestellt, dass die Bedeutung der Kommissionen mit der Reform tendenziell zugenommen hat. Die Tätigkeit der Abgeordneten konzentriert sich zeitlich mehr auf die Kommissionen als auf das Plenum; die neuen ständigen Kommissionen machen vermehrt von den Instrumenten der parlamentarischen Initiative und der Motion Gebrauch. Die - wenn auch geringfügig - gestiegene Erfolgsrate der Anträge der Kommissionen, die deutlich gesunkenen Erfolgsraten von Einzelanträgen im Ständerat und von Minderheitsanträgen im Nationalrat lassen zudem auf eine zumindest teilweise gestiegene Durchsetzungsfähigkeit der Kommissionen in den Plena schliessen.

 

Am meisten Auswirkungen hatte die Reform jedoch auf das Verhältnis zwischen den Kommissionen und dem Bundesrat. Die Vertreter von Regierung und Verwaltung haben es neu mit einer konstant zusammengesetzten Gruppe von Abgeordneten zu tun, welche bestimmte Sachgebiete kontinuierlich verfolgen und sich einen entsprechenden Sachverstand aufbauen können. Regierung und Verwaltung treffend somit auf kompetentere, aber auch auf kritischere Gesprächspartner. Die Kommissionen stellen denn auch vermehrt Anträge, die nicht dem Entwurf des Bundesrates entsprechen. Somit konnte auch die Stellung des Parlamentes insgesamt gestärkt werden. Von einem "Niedergang der Parlamente", wie ihn Lord Bryce vor 75 Jahren prophezeit hatte, kann also für den schweizerischen Fall nicht die Rede sein. Die mit der Reform verbundenen Hoffnungen wurden also durchaus erfüllt.

 

In einem nächsten Schritt hat uns die Frage beschäftigt, ob die verschiedenen neuen ständigen Kommissionen auf unterschiedliche Art und Weise den Entscheidungsprozess beeinflussen. Es konnte dabei gezeigt werden, dass sich Institutionen mit formal gleicher Ausgestaltung durchaus in ihrer Wirkung unterscheiden. So scheinen sich zwei Hauptmuster der Einflussnahme von Kommissionen auf den Entscheidungsprozess auszubilden. Die einen Kommissionen wirken innovativ auf den Entscheidungsprozess, indem sie ihn entweder selber auslösen oder Vorlagen des Bundesrates umgestalten, dafür sind sie jedoch nicht immer erfolgreich mit ihren Anträgen und werden häufig durch Minderheitsund Einzelanträge herausgefordert. Andere Kommissionen hingegen bringen kaum neue Ideen in den Entscheidungsprozess ein, kennen aber kaum Durchsetzungsprobleme.

 

In der amerikanischen Forschung wurden Unterschiede zwischen verschiedenen Kommissionen mit unterschiedlichen Zielen ihrer Mitglieder erklärt. Abgeordnete, die sich in der Öffentlichkeit profilieren wollen, wählen nicht unbedingt die gleiche Kommission wie solche, die gezielt Interessen einbringen oder konkrete Vorstellungen betreffend die Ausgestaltung eines bestimmten Gesetzes haben. Setzen sich bestimmte Kommissionen aus Mitgliedern zusammen, die ähnliche Ziele verfolgen, so bilden sich gemäss Beobachtungen amerikanischer Forscher unterschiedliche informelle Strukturen heraus. In gewissen Kommissionen dominiert zum Beispiel parteiübergreifendes Verhalten, es werden Kompromisse gesucht. In anderen Kommissionen stehen sich die Parteien kompromisslos gegenüber.

 

Für den schweizerischen Fall konnte gezeigt werden, dass in bestimmten Typen von Kommissionen eher parteiübergreifendes Verhalten zu beobachten ist als in anderen. Allerdings konnte die Arbeit der neuen ständigen Kommissionen erst während zwei Jahren verfolgt werden. Es wird sich in Zukunft weisen, ob sich solch informellen Strukturen in gewissen Kommissionen stabilisieren. Interessanterweise wurde festgestellt, dass im Gegensatz zu Erkenntnissen der amerikanischen Forschung parteiübergreifendes, konsensorientiertes Verhalten von Kommissionsmitgliedern keineswegs höheren Erfolg im Plenum sichert. Im Gegenteil weisen gerade Kommissionen, die von bisweilen eher geringerem Einfluss der Fraktionen geprägt sind, eine niedrigere Erfolgsrate ihrer Anträge auf als diese. Hingegen wirken diese Kommissionen innovativ auf den Entscheidungsprozess, indem sie Bundesratsvorlagen umgestalten oder selber den Prozess zu einer Gesetzgebung anregen. Ein gewisses Zurücktreten des Parteieinflusses scheint also Voraussetzung für eine innovatorische Tätigkeit der Kommissionen zu sein.

 

Es konnte somit dargelegt werden, dass sowohl die formale Ausgestaltung des Kommissionensystems als auch die individuellen Ziele und das Verhalten der Kommissionsmitglieder Einfluss auf den parlamentarischen Entscheidungsprozess haben. In einem weiteren Schritt ging es um eine Verknüpfung dieser beiden Elemente. Damit sind wir bei der grossen Herausforderung des neoinstitutionellen An- satzes, der Verbindung der formalen und der individuellen Perspektive, angelangt. Die Auswertung der Interviews hat ergeben, dass mit der Einführung des neuen Kommissionensystems zahlreiche neue Möglichkeiten für das Verhalten der Abgeordneten entstanden sind. Diese neuen Möglichkeiten werden aber zum Teil nicht oder dann ganz unterschiedlich genutzt. Die Ausgestaltung von Institutionen kann also das Verhalten der politischen Akteure beeinflussen. Es ist aber kaum voraussehbar, welcher Art die von einer bestimmten Reform bewirkten Verhaltensänderungen sein werden.

 

Hingegen konnte klar festgestellt werden, dass formale Strukturen bestimmen, wer Zugang zum Entscheidungsprozess hat. In den Interviews ist eindeutig zum Ausdruck gekommen, dass mit dem neuen Kommissionensystem die Vertretung spezifischer Interessen keineswegs leichter geworden ist, sondern im Gegenteil gewisse Akteure Mühe bekunden, Zugang zu den für ihre Klientel wichtigsten Geschäften zu bekommen. Zumindest in bestimmten Themenbereichen kommt so seit der Parlamentsreform neben dem parlamentsextern eingebrachten, häufig von bestimmten Interessengruppen gespeisten Sachverstand, vermehrt auch ein parlamentsinterner, von einer längerfristigen Perspektive geprägter Sachverstand zum Zug.

 

Der institutionelle Faktor spielt also in der Politik durchaus eine Rolle. Nicht nur hatte die Reform des Kommissionensystems der Bundesversammlung Einfluss auf den parlamentarischen Entscheidungsprozess, sie hat auch neue Möglichkeiten für das Verhalten der Parlamentsmitglieder geschaffen. Daneben konnte aber auch der Einfluss des individuellen Faktors aufgezeigt werden: Verschiedene Abgeordnete mit unterschiedlichen Zielen beeinflussen den Entscheidungsprozess unterschiedlich. An einer möglichst sinnvollen Verknüpfung dieser beiden Faktoren muss in der politologischen Forschung weitergearbeitet werden, wenn politische Entscheidungsprozesse in ihrer Komplexität und nicht eindimensional erfasst werden sollen.

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