Der ökonomisch-patriotische Blick. Statistik und Volksaufklärung in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern

AutorIn Name
Gerrendina
Gerber-Visser
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
André
Holenstein
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2008/2009
Abstract


Die Oekonomische Gesellschaft Bern wurde 1759 gegründet und war eine prominente Vertreterin unter den sich auf Experiment und beobachtende Erforschung stützenden ökonomischen, gemeinnützig-patriotischen Gesellschaften und gelehrten Gesellschaften, die in der europäischen Aufklärung eine wichtige Rolle bei der Generierung und Diffusion von Wissen spielten. Die Dissertation ist im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts entstanden, in dessen Zentrum die Berner Sozietät steht.

Die deklarierte Zielsetzung der Berner Sozietät war die Erhöhung der Agrarproduktion, „die Hebung der Landwirthschaft“ durch verschiedene Massnahmen, die auf eine Optimierung der Nutzung der Ressourcen zielten. Dabei gelangten das Naturpotential, die Agrarwirtschaft und die bestehende Agrarverfassung sowie die Landleute mit ihrer Arbeitskraft in den Blick der Berner Ökonomen.

Ihr Arbeitsprogramm, das die Oekonomische Gesellschaft 1762 in ihrem eigenen regelmässig in deutscher und französischer Sprache erscheinenden Publikationsorgan veröffentlichte, umfasste sechs „Hauptstücke“, die das Arbeitsgebiet in verschiedene Teilbereiche gliederte. Das erste Arbeitsfeld war die sogenannte topographische Beschreibung des ganzen bernischen Territoriums mit dem Zweck, den Ist-Zustand zu erfassen und Optimierungspotential zu eruieren. Die Sozietät erwartete umfassende Beschreibungen der einzelnen Kirchgemeinden und Ämter, die einerseits die topographischen und klimatischen Voraussetzungen und allgemein den Naturraum beschreiben sollten, andererseits aber auch die aktuelle Bewirtschaftung des Landes sowie Handel und Gewerbe. Zudem interessierte sie sich für die Bevölkerung, sowohl was die demographische Entwicklung als auch was volkskundliche Aspekte betraf. Der Rücklauf an Arbeiten war beachtlich, auch wenn das Ziel einer vollständigen Beschreibung des Kantons nie erreicht wurde. In den 100 Jahren, in denen sich die Gesellschaft mit diesem Projekt befasste, entstand ein umfangreiches Quellenkorpus von insgesamt Topographischen Beschreibungen, die teilweise in gedruckter Form, teilweise jedoch auch nur handschriftlich überliefert sind. Dieses Textkorpus steht im Zentrum der Studie. Die Untersuchung ist in drei Hauptteile gegliedert. In einem ersten Hauptkapitel (Kapitel 2) wird der ideenund wissensgeschichtliche Kontext aufgearbeitet. Topographische Beschreibungen knüpfen an die Tradition der beschreibenden Statistik an, die seit dem 18. Jahrhundert im Rahmen der theoretischen Staatenkunde insbesondere an der Universität Göttingen als eigenes Fach gelehrt wurde. Über Albrecht von Haller bestanden Kontakte der Berner Ökonomen zu Gottfried Achenwall, der in Göttingen Statistik lehrte. Als direktes Vorbild dienten aber die Landesbeschreibungen der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Die Berner Ökonomen beschränkten sich nicht auf die beschreibende Statistik, sie interessierten sich auch für numerische Daten. Etwas mehr als 60 Jahre nach diesem ersten Arbeitsprogramm der Gesellschaft wurde anlässlich einer Wiederbelebung der Aktivitäten ein umfangreiches neues Arbeitsprogramm gedruckt, das als genaue Anleitung zum Verfassen Topographischer Beschreibungen diente.

Im nächsten Teil (Kapitel 3) wird die praktische Umsetzung des Projekts untersucht. Über die ganze Periode konnten einzelne Pfarrherren und Beamte dazu motiviert werden, eine Topographische Beschreibung über ihre Region zu verfassen, ausnahmsweise betätigten sich auch Bauern auf diesem Gebiet. Nicht alle Autoren waren zugleich aktive Mitglieder der Oekonomischen Gesellschaft. Mit dem Ausschreiben von Preisen konnten auch Nichtmitglieder motiviert werden. In diesem Kapitel wird zudem nach der Arbeitsweise der Autoren sowie der zeitlichen und räumlichen Verteilung der Texte und ihrem Entstehungskontext gefragt. In einem Exkurs wird auch die andere im 18. Jahrhundert praktizierte Form der statistischen Arbeit, die politische Arithmetik, kurz beleuchtet. Dies geschieht an Hand der bevölkerungsstatistischen Untersuchung des waadtländer Pfarrers Jean Louis Muret, die zu einem Konflikt zwischen der bernischen Obrigkeit und der Oekonomischen Gesellschaft führte. Ein Blick auf die Rezeption der Topographischen Beschreibungen bis ins 20. Jahrhundert schliesst das Kapitel ab.

Der Hauptteil (Kapitel 4) unternimmt eine Auswertung des vorhandenen Materials. Dabei wurde keine objektivistische Rekonstruktion der beschriebenen Lebenswelten anvisiert. Die Heterogenität und die räumliche und zeitliche Streuung der einzelnen Topographischen Beschreibungen liessen dies nicht zu. Hingegen eignete sich das Quellenkorpus ausgezeichnet für wahrnehmungsgeschichtliche Fragen. In dem Sinn wurde der Blick der reformorientierten Autoren auf den Naturraum, die Wirtschaft und die ländliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts herausgearbeitet. Die Topographischen Beschreibungen werden in diesem Zusammenhang als Dokumente der Volksaufklärung verstanden. Ein besonderer Fokus liegt in diesem Teil der Studie auf der Wahrnehmung des Landvolks durch die Autoren als Blick einer gelehrten Elite auf die ländliche Bevölkerung. Untersucht werden u. a. die Darstellung der Bergbewohner, dies im Vergleich zu zeitgenössischen Reisebeschreibungen, sowie die Beschreibung der Bauern in Bezug auf ihre Innovationsbereitschaft bzw. ihrem Traditionalismus als Hindernis für die Umsetzung von Agrarinnovationen. Der Beschreibung der Armut in den Topographischen Beschreibungen ist ein längeres Unterkapitel gewidmet, da sich gerade an den Deutungen und vorgeschlagenen Massnahmen zu diesem Thema viel über die spezifische Sichtweise der Autoren herausarbeiten liess. Auch die Erziehung – als zentrales Thema der Volksaufklärung – wird in einem eigenen Unterkapitel behandelt.

Da das Quellenkorpus für regionalgeschichtliche Untersuchungen und für agrargeschichtliche und volkskundliche Fragestellungen noch ein grosses Auswertungspotential in sich birgt, wurden die einzelnen Topographischen Beschreibungen in der Studie in einem umfangreichen dokumentarischen Anhang systematisch erfasst. Die Eckdaten zu den einzelnen Arbeiten werden dort tabellarisch aufgeführt, eine kurze Beschreibung weist auf die inhaltlichen Schwerpunkte des jeweiligen Textes hin und die Autoren werden kurz vorgestellt. In diesem Teil finden sich auch weiterführende Literaturhinweise zu den einzelnen Texten. Der Anhang enthält zudem Tabellen für eine thematische Suche und ein Gemeinderegister. Diese umfangreiche Dokumentation versteht sich als Erschliessungsarbeit für weitere Forschungen.

Die Topographischen Beschreibungen der Berner Ökonomen besassen Pioniercharakter für den deutschsprachigen Raum und fanden zahlreiche Nachahmer. Bereits um 1800 waren Topographische Beschreibungen beim Publikum beliebte Alternativen zu Reisebeschreibungen. Die Sozietät beschäftigte sich über lange Zeit mit dieser Form der Landesbeschreibung. Es zeigt sich eine grosse Kontinuität in der Fragestellung, der Arbeitsweise und bei den Verfassern. Das Projekt wurde erst fallengelassen, als die Gesellschaft sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich zu einem Verein von Landwirten wandelte, da dieser Wandel sich auch in einer Neuausrichtung der Arbeitsfelder niederschlug. Die letzten Topographischen Beschreibungen lassen sich aber durchaus auch als frühe Ortsbeschreibungen oder Ortsgeschichten lesen.

Die Studie leistet im Rahmen einer wissensgeschichtlichen Fragestellung einen Beitrag zur Erforschung der praktischen Arbeit der Oekonomischen Gesellschaft Bern und greift an Hand des besonderen Quellenkorpus der Topographischen Beschreibungen aktuelle Forschungsthemen zur Volksaufklärung auf.

Die Dissertation wird voraussichtlich in der Reihe „Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern“ erscheinen.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken