Der schweizerische Kanton Graubünden kennt kaum einen wirkungsmächtigeren Mythos als jenen um Benedikt Fontana, den Helden der Calvenschlacht 1499. Doch kaum jemand ausserhalb der schweizerischen Eidgenossenschaft kennt den Begriff ‚Calven’ (rätoroman. Chalavaina). Wenig weitläufig ist auch der Bergriff der ‚Calvenschlacht’ (rätoroman. Battaglia da Chalavaina), die im Rahmen des Schwabenkrieges 1499 zwischen einer Bündner Truppe und dem Heer vom römischdeutschen König Maximilian I. stattgefunden hat. Eine historische Persönlichkeit war für den Ausgang der Schlacht entscheidend: der Hauptmann der Bündner Truppen Benedikt Fontana. Der bekannte Dichter Simon Lemnius, geboren auf dem Hof Guad bei Sta. Maria im Münstertal, beschrieb im Jahre 1550 in seinem Werk Raeteis die Schlacht in Versform auf Latein. Lemnius betonte besonders die Rolle Benedikt Fontanas. Sterbend hätte dieser auf dem Schlachtfeld die Bündner mit Aufmunterungsworten angefeuert: «Hei fraischgiamang meiss matts, cun mai ais be ün hom da fear, quai brichia guardad, u chia hoatz Grischuns e Ligias u maa non plü.» «Frisch auf, meine Jungen, ich bin nur ein Mann, achtet meiner nicht, heute noch Bündner und Bünde oder nie mehr.» Heute erinnert in Chur ein im Jahr 1903 errichtetes Denkmal an Benedikt Fontana und die erwähnte Szene aus der Schlacht an der Calven 1499.
Dieses Kapitel der Bündner Geschichte wurde in zahlreichen eidgenössischen Berichten geschildert und an Erinnerungsfeiern hervorgehoben – u.a. an der Calvenfeier 1899 in Chur. Für das Projekt der Formierung eines neuen, höher eingestuften Zugehörigkeitsbewusstseins auf den im 19. Jahrhundert neu geschaffenen politischen Ebenen des Kantons und des Bundes kam der Konstruktion eines nationalen Geschichtsbildes eine zentrale Funktion zu. Fontanas „Heldentat“ unterbreitete ein diversifiziertes Identifikationsangebot, das gemeinsame Nenner formulierte: Vaterland, Heimat, Nation. Als „rätischer Winkelried“ stiftete Fontana für die heterogen strukturierte Gemeinschaft Graubündens den Glauben an Freiheit und Einigkeit, was ihm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Platz in der nationalen Heldengalerie neben Winkelried und somit in der eidgenössischen Erinnerungskultur sicherte.
Im Jahr 1999 organisierten das in der Schweiz liegende Münstertal und der in Italien liegende Vinschgau zum 500-Jahr-Jubiläum der Calvenschlacht eine Gedenkfeier, die nicht den Sieg der Bündner an der Calven glorifizierte, sondern vielmehr die guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Regionen nach der Calvenschlacht 1499 betonte. Die Untersuchung der Entstehungsgeschichte, Entwicklung und Durchführung der 500-Jahr-Gedenkfeier 1999 förderte Erstaunliches zu Tage: Schien Benedikt Fontanas Heldenruhm im 19. Jahrhundert unvergänglich zu sein, so stellte sich heraus, dass dem Calvenhelden am Ende des 20. Jahrhunderts offenbar keine grosse nationale Bedeutung zukam. An Fontanas Stelle, an diejenige des Einzelnen, ist am Ende des 20. Jahrhunderts das Kollektiv getreten, das an den Gedenk-Feierlichkeiten des Jahres 1999 sich selbst zu einem Heldenvolk idealisierte. Diese Arbeit geht deshalb von der Beobachtung aus, dass mythische und geschichtliche Ereignisse bzw. Figuren aus der Frühzeit der alteidgenössischen Geschichte über die Jahrhunderte hinweg nachhaltig einen zentralen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis, sowohl der Alten Eidgenossenschaft als auch der modernen Schweiz, eingenommen haben. Es wird anhand einer ausgewählten Situation und Konstellation nach den politischen und kulturellen Funktionen einer eidgenössischen Erinnerungsarbeit gefragt. Da sich im Wandel der Epochen sowohl das Verständnis von Status und Funktion der Geschichte als auch die Verfahren und Modi einer plausiblen Erinnerung und Vergegenwärtigung verändert haben, bietet diese Arbeit auch Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der Frage, welches Geschichtsdenken sich in diesen spezifischen Konstellationen des Rückgriffs auf die Geschichte jeweils artikuliert hat. Die kollektive Erinnerung an Fontanas „Heldentat“ schwindet zusehends aus dem nationalen Rampenlicht farbiger Schlachtenschilderungen, bleibt jedoch im Kanton Graubünden und vor allem im Münstertal in modifizierter Form erhalten. Dort hat der Calvenheld noch lange nicht ausgedient: Seine richtungsweisende Haltung auf dem Denkmal in Chur scheint anzudeuten, dass es auch in unseren Tagen noch «hoatz u maa non plü» «heute oder nimmermehr» heissen kann.
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2007/2008
Abstract