Strukturveränderungen statt Entwicklungshilfe? Rezeption und Diffusion der Dependenztheorie in der schweizerischen Entwicklungspolitik 1968-1978

AutorIn Name
Manuel
Schär
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Albert
Tanner
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2006/2007
Abstract

Rudolf Strahm, damals in der Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern (AG3W) aktiv, bezeichnete 1972 die Entwicklungshilfe als „Resignationslösung für verhinderte Kausaltherapie“. In seinem Verständnis war Unterentwicklung nicht auf eine mangelnde Kapitalakkumulation oder fehlendes Fachwissen zurückzuführen, sondern resultierte vielmehr aus einer strukturellen Benachteiligung der Entwicklungsländer im kapitalistischen Weltmarkt. Nach Strahms Auffassung bedeutete Unterentwicklung nicht Rückständigkeit, sondern Abhängigkeit, das Rezept nicht Entwicklungshilfe, sondern fundamentale Strukturveränderungen.

 

Die Rezeption und Diffusion dieses neuen Entwicklungsverständnisses in der Schweiz wird in dieser Lizentiatsarbeit untersucht.

 

Sowohl der Bund wie auch private Hilfswerke leisteten seit den 1950er-Jahren Entwicklungshilfe. Diesem Engagement lag der erste universelle Erklärungsansatz für Unterentwicklung zugrunde: die Modernisierungstheorie. Ausgangspunkt war die These, dass für die Rückständigkeit der nichtindustriellen Gesellschaften in erster Linie interne, im kulturellen und mentalen Bereich zu suchende Faktoren verantwortlich seien. Die Entwicklung wurde als ein linearer Prozess sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels gedeutet, bei welchem die westliche Industriegesellschaft den Endpunkt des „Entwicklungsweges“ darstellte. Durch Beratung sowie technische und finanzielle Transferleistungen – eben Entwicklungshilfe – sollte der notwendige Strukturwandel eingeleitet und die Rückständigkeit beseitigt werden.

 

Als sich in den 1960er-Jahren das Scheitern der bisherigen Entwicklungsbemühungen abzeichnete, begannen Vertreter der so genannten Dependencia-Schule die modernisierungstheoretische Entwicklungskonzeption in Frage zu stellen. Die unter dem Begriff Dependenztheorie zusammengefassten Ansätze wiesen einerseits auf den Ethnozentrismus der Modernisierungstheorie hin, andererseits darauf, dass die Entwicklung der „modernen“ Gesellschaften zumindest teilweise auf die Ausplünderung der „traditionellen“ beruhe, sei dies über direkte physische Gewalt (Sklavenhandel, Kolonialismus) oder über ökonomische Mechanismen (Gewinntransfer, Monopolpreise, Zölle und Subventionen). Unterentwicklung wurde nicht länger als eine Art vorgeschichtlicher Naturzustand angesehen, sondern als Resultat eines historischen Prozesses.

 

Zwei entwicklungspolitische Gruppierungen waren für die Aufnahme dieses neuen Entwicklungsverständnisses in der Schweiz von einiger Bedeutung: einerseits die von protestantischen Theologen initiierte Erklärung von Bern (EvB), andererseits die in einem universitären Umfeld entstandene AG3W. Während am Anfang beider Engagements die Erkenntnis im Zentrum stand, dass Armut und Hunger nicht mit der christlichen Ethik zu vereinbaren seien, ist bereits in den frühen 1970er-Jahren die Aufnahme dependenztheoretischer Konzepte feststellbar. So sah die EvB 1970 die Schweiz durch ihre „eigene technische und soziale Entwicklung zu tiefgreifenden Strukturveränderungen genötigt“ und lancierte 1974 die erste Aktion für gerechten Handel (Ujamaa-Kaffee). Auch für die AG3W war klar: „Es kommt weniger darauf an, mehr zu geben, als weniger zu nehmen.“ Folglich kritisierte sie die Hilfswerke fundamental: „Wie lange wird es dauern, bis unsere Kirchen und Entwicklungshilfswerke einsehen, dass wirksame Entwicklungshilfe nicht darin besteht, Wasserröhren und Schiefertafeln in die Dritte Welt zu schicken?“

 

Die Kritik an der Arbeit der Hilfswerke blieb nicht folgenlos, wie das Beispiel von Helvetas zeigt. Zeugte die 1969 ausgearbeitete Helvetas-Politik noch von einem konsequent modernisierungstheoretischen Verständnis, konnte sich Helvetas in den 1970er-Jahren den neuen Positionen nicht mehr verschliessen. Nach langen und intensiven Auseinandersetzungen lag 1978 die revidierte Helvetas- Politik vor – ein Kompromiss. Einerseits wurde die Projektarbeit weiter als wichtiges Rezept gegen die Unterentwicklung verstanden. Andererseits wurde die Inlandarbeit nun aber politisch begriffen, und es wurden gar moderate Strukturveränderungen gefordert. So setzte sich Helvetas zum Ziel, „die Ursachen und die weltweiten Zusammenhänge der Entwicklungsprobleme“ aufzuzeigen und „die daraus folgenden konkreten Forderungen für eine umfassende Entwicklungspolitik zur Diskussion“ zu stellen. Die Helvetas-Politik von 1978 war Ausdruck einer selektiven Übernahme dependenztheoretischer Konzepte, wobei dem Hilfswerk mit dieser Neupositionierung die Legitimierung der eigenen Arbeit vorerst gelang: Die Spendeerträge stiegen in der Folge jedenfalls stark an.

 

Resultate dieser Arbeit erscheinen als Aufsatz: Rahel Fischer / Manuel Schär, „Tausende Hungertote – ist die Schweiz mitschuldig? Internationale Solidarität in Bern: die Arbeitsgruppe Dritte Welt“, in: Bernhard Schär u.a. (Hg.), „Bern 68. Lokalgeschichte eines globalen Aufbruchs – Ereignisse und Erinnerungen“, Baden 2008, S. 151-160.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken