Das wild gewordene Element“. Gesellschaftliche Reaktionen auf die beiden Mittellandhochwasser von 1852 und 1876

AutorIn Name
Reto
Müller
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2002/2003
Abstract

Sind Naturkatastrophen innovationsfördernd? Wie reagieren Staat und Gesellschaft auf die lebensbedrohenden Naturgewalten? Welche Lernprozesse können solche Extremereignisse auslösen? Die Geschichte der Naturkatastrophen ist noch kaum erforscht und steckt derzeit in den Anfängen.

 

Diese Arbeit befasst sich mit zwei Mittellandhochwassern im 19. Jahrhundert, welche im Raum der Schweiz zu den grössten je registrierten Hochwassern zu zählen sind. Mit Hilfe der komparativ-historischen Methode wurde untersucht, wie der junge Bundesstaat auf zwei ähnlich gelagerte Naturkatastrophen innerhalb eines Vierteljahrhunderts reagierte. Das Hauptaugenmerk richtete sich dabei auf die drei gesellschaftlichen Subsysteme „Medien“, „Wissenschaft“ und „Staat“.

 

Als Quelle zur Erschliessung der öffentlichen Wahrnehmung diente die Tagespresse. Die Entwicklung der Expertenmeinung wurde mit Hilfe der wissenschaftlichen Publikationen der Wasserbauund Forstingenieure nachgezeichnet. Das staatliche Handeln konnte mittels der Archivbestände im Schweizerischen Bundesarchiv und jenen des Staatsarchivs des Kantons Bern aufgearbeitet werden.

 

Die beiden Hochwasserkatastrophen waren sowohl 1852 als auch 1876 grosse Medienereignisse, welche die sonst dominierenden politischen Nachrichten in den Hintergrund zu rücken vermochten. In beiden Fällen wurde die Katastrophe in den Medien vornehmlich als Bedrohung der technischen Infrastruktur wahrgenommen. Unterbrochene Verkehrswege – 1852 vor allem Postkutschenverbindungen, 1876 hauptsächlich die Eisenbahnlinien – waren zentrale Elemente in der Berichterstattung.

 

Bei der Ursachenanalyse und der Präsentation von Präventionsmassnahmen drängten sich vor allem zwei wissenschaftliche „Communities“ auf: einerseits die Wasserbauingenieure und andererseits die Forstwissenschafter. Die Präventionsstrategie der Wasserbauer basierte auf dem rationellen, aufklärerischen Gedanken, dass die Natur durch die Technik zu bändigen sei. Die Forstingenieure hingegen plädierten für eine Bekämpfung der Ursachen, welche sie in der „Entwaldung der Alpen“ festgemacht hatten. 1852 hatte die Forstwissenschaft den Schritt „aus den Hörsälen“ jedoch noch nicht vollzogen. Der Zusammenhang zwischen Hochwasser und Abholzung in den Bergen wurde erst unter den Experten diskutiert. In den Medien und in der Politik kam allein die Sicht der Wasserbauer zum Zug. In der Zeit nach 1852, nicht zuletzt infolge weiterer verheerender Überschwemmungen, setzte sich die Ursachenanalyse der Forstingenieure allmählich durch.

 

Die Reaktionen der staatlichen Behörden auf die beiden Ereignisse unterschieden sich nicht so sehr bezüglich der Reaktionsmuster, sondern vielmehr bezüglich der Akteure. In den Jahren zwischen 1852 und 1876 hatte sich in der Schweiz ein Integrationsprozess vollzogen, der zur Folge hatte, dass der Bund seine Kompetenzen stetig erweitern konnte. Diese Kompetenzverschiebung hin auf eine höhere staatliche Ebene ist auch bei der Katastrophenbewältigung auszumachen. So bewältigten 1852 die Kantone die Krisensituation alleine, die Bundesbehörden zeigten weder eine Solidaritätsgeste noch riefen sie zu Spendensammlungen auf. Das Hochwasser wurde auch nicht als „nationale Katastrophe“ wahrgenommen. Ganz im Gegensatz dazu war die Reaktion im Jahre 1876: Damals stützte sich der Bund auf die Erfahrungen früherer Jahre – insbesondere auf das alpine Hochwasser von 1868 – und koordinierte die Krisenbewältigung. So wurde das Hochwasser als „Nationalunglück“ deklariert und eine eidgenössische Liebessteuer ausgerufen. Dass 1852 keine nationale Solidaritätsbewegung ausgelöst wurde, hat wohl verschiedene Gründe. Es ist vermutlich einem unglücklichen Zusammentreffen von politischer Zerrissenheit, institutionellen Mängeln und wirtschaftlicher Schwäche zuzuschreiben, dass der junge Bundesstaat die Erfahrungen früherer Jahre nicht zu nutzen vermochte. Der Sonderbundskrieg hinterliess sowohl bei staatlichen wie auch nichtstaatlichen Institutionen seine Spuren. Anders als noch beim Hochwasser von 1834 war die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, die seinerzeit eine eidgenössische Spendensammlung organisiert hatte, aus personellen und politischen Gründen funktionsunfähig. Aber auch der neu geschaffene Bundesstaat konnte keine Solidaritätsbewegung auslösen. Dazu war der Bund ein zu gebrechliches Gebilde, das in weiten Teilen des Landes auf wenig Akzeptanz stiess. Für ein direktes Eingreifen seitens des Bundes fehlten zudem die personellen und finanziellen Ressourcen. Eine aktivere Rolle des Bundes wäre wohl bei den Föderalisten als Versuch einer Kompetenzausweitung missverstanden worden. Zudem hätte eine nationale Spendenaktion vermutlich wenig eingebracht. Zum einen, weil beim Hochwasser von 1852 die wirtschaftlichen Zentren betroffen waren. Die nicht betroffenen Randregionen verfügten kaum über finanzielle Mittel für Spenden. Zum andern gehörten die verschonten Gebiete fast ausnahmslos zur Verliererpartei im Sonderbundskrieg und mussten bereits grosse Summen als Reparationen begleichen. Dieser Umstand hätte eine nationale Spendenfreudigkeit kaum aufkommen lassen.

 

Die Reaktionen von 1876 stützten sich hauptsächlich auf Erfahrungen aus früheren Ereignissen ab. Anders jedoch 1852: hier wurde das Konzept des regelvertrauten Lernens durchbrochen. Das Ereignis eröffnete insbesondere dem Projekt der Juragewässerkorrektion neue Handlungsoptionen, die ohne die Krise wohl kaum zur Verfügung gestanden hätten. Projekte zur Korrektion der Juragewässer waren bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden, die Pläne scheiterten aber immer wieder an den divergierenden Interessen der kantonalen Behörden und an den komplizierten Besitzverhältnissen im Grossen Moos.

Die Hochwasserkatastrophe von 1852 gab jedoch den Lobbyisten um Nationalrat Dr. Johann Rudolf Schneider die einmalige Gelegenheit, mit ihrem Anliegen nicht nur vor die Berner Regierung zu treten, sondern zusätzlich die Hilfe der neu geschaffenen Behörden des Bundes in Anspruch zu nehmen. Mit Hilfe der Medien erzeugten die Seelandgemeinden politischen Druck und forderten mit Verweis auf die Linthkorrektion Bundesgelder für die Entsumpfung des Seelandes. Der neu eingeführte Art. 21 der Bundesverfassung, wonach dem Bund die Kompetenz zur Unterstützung von „öffentlichen Werken“ zustand, war hierzu wie geschaffen. Die Thematik der Juragewässerkorrektion war schon während über 100 Jahren immer wieder auf der politischen Agenda, allein ohne die Mitwirkung des Bundes hätte das Projekt wohl nie einen Abschluss gefunden.

 

Als zusammenfassendes Fazit kann festgehalten werden: Die gesellschaftlichen Reaktionen auf das Ereignis von 1876 stützten sich auf Erfahrungen früherer Katastrophen. Innovationen hat das Ereignis indessen kaum ausgelöst. Anders bei den Reaktionen anlässlich des Hochwassers von 1852, die auf eidgenössischer Ebene keine Anknüpfungspunkte an frühere Ereignisse fanden. Dafür waren seine Auswirkungen längerfristig umso bedeutender. Als auslösendes Moment für die Übertragung der Projektleitung an den Bundesstaat forcierte das Hochwasser von 1852 den wohl bedeutendsten anthropogenen Landschaftswandel im Gebiet der Schweiz. Zudem übernahm der Bund erstmals die Mitfinanzierung eines öffentlichen Werkes im Sinne des Wohlfahrtsartikels der Bundesverfassung und gab damit den Startschuss für das bis heute stark integrativ wirkende Subventionswesen.

 

Die Arbeit wird in der Reihe „Berner Forschungen zur Regionalgeschichte“ vom Verlag Traugott Bautz publiziert (www.bautz.de).

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