Italien und der Abessinienkrieg, 1935/36. Ein Kolonialkrieg oder ein Totaler Krieg?

AutorIn Name
Giulia
Brogini Künzi
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2001/2002
Abstract

Die Arbeit widmet sich dem Krieg, den Italien im Oktober 1935 gegen das äthiopische Reich entfachte. Bereits nach sieben Monaten verkündete die italienische Regierung offiziell den Sieg der eigenen Streitkräfte über die äthiopische Armee. Das eroberte Gebiet wurde im Mai 1936 in das bestehende italienische Kolonialreich integriert. Eritrea und Italienisch-Somaliland verschmolzen mit Äthiopien zum so genannten Imperium Ostafrika. Vergleicht man die Fläche und die Anzahl Einwohnerinnen und Einwohner der italienischen Kolonialgebiete vor und nach dem Krieg, dann erweist sich, dass die Bevölkerungszahl in den Kolonien Eritrea, Italienisch-Somaliland und Libyen vor 1935 auf rund 2,2 Millionen geschätzt wurde, wohingegen die Statistiken nach dem Abessinienkrieg etwa 12,2 Millionen Menschen verzeichneten. Die Fläche wuchs in derselben Zeit von 2,1 Millionen Quadratkilometer auf insgesamt 3,2 Millionen Quadratkilometer.

 

Die zentrale Fragestellung widmet sich den Berührungspunkten zwischen dem vom italienischen Offizierkorps entwickelten Idealtypus des Totalen Krieges und dem real stattgefundenen Abessinienkrieg. Es wird ein Bezug hergestellt zwischen den beiden Ebenen, dem Krieg einerseits und dem Diskurs über den Krieg andererseits. Dabei werden die Ausprägungen der Entfesselung der Kriegsgewalt und die Kriegführung in Äthiopien fassbar gemacht, etwa durch die Analyse der Kriegsziele, die Untersuchung der Kriegsmittel und der Kriegsmethoden. Schliesslich wird auch untersucht, wie das militärische Kommando beziehungsweise die faschistische Regierung vorgingen, um den Krieg „unter Kontrolle“ zu halten.

 

Die Mobilisierung der Heimatfront erreichte 1935/36 einen Höhepunkt. Das Regime hatte sich seit dem Machtaufstieg der Faschisten gefestigt und der Krieg trug dazu bei, in allen Schichten der Gesellschaft eine Welle des Enthusiasmus und des Nationalismus auszulösen. Während die kritischen Stimmen im Lande von den Repressionsorganen praktisch ausgeschaltet werden konnten, stand die grosse Mehrheit der Italienerinnen und Italiener Mitte der 1930er Jahre hinter Mussolini.

 

Die veröffentlichte Meinung zum Krieg fiel nicht nur in Italien, sondern in vielen anderen europäischen Staaten und auch in der übrigen Welt positiv aus, obschon in der kurzen Zeitspanne der effektiven Kriegshandlungen Italien vom Völkerbund Sanktionen auferlegt wurden. Aller Diplomatie zum Trotz hatte sich unterschwellig der Konsens gebildet, dass der Überfall auf Äthiopien letztlich nicht die vitalen Interessen der Grossmächte tangierte.

 

Der Abessinienkrieg stellte eine Feuerprobe für das neu gegründete italienische Ministerium für Presse und Propaganda dar. Die Verlautbarungen der Politiker und Militärangehörigen liessen sowohl während wie nach dem Krieg nie einen Zweifel daran aufkommen, dass der Sieg in der Kolonie nicht „total“, im Sinne von „vollkommen“, gewesen sei. Rückblickend kann jedoch festgestellt werden, dass sich der „fulminante Siegeszug des Faschismus“ in Ostafrika nicht a priori als leichtes Unterfangen entpuppte.

 

Die Kriegshandlungen von 1935 bis 1936 und die folgenden Operationen zur Befriedung des Landes, welche bis 1941 anhielten, erforderten einen grossen Einsatz an Personal und modernen Waffen, sie beanspruchten beachtliche finanzielle Mittel und hatten zur Konsequenz, dass sich Italien am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in einer zugegebenermassen unvorteilhaften Ausgangslage befand: Das Kriegsmaterial war verschlissen und die Ressourcen waren äusserst knapp geworden.

 

Dabei hatte der Abessinienkrieg gerade wegen seiner Dimension und der modernen Kriegführung in der Militärpresse als wertvolle Vorbereitung für einen kommenden Grosskrieg in Europa eine herausragende Bedeutung erlangt.

 

Während des Abessinienkrieges 1935/36 standen auf italienischer Seite durchschnittlich 330.000 italienische Soldaten und Offiziere sowie 87.000 Askaris unter Waffen. Hinzu kamen mehrere zehntausend irreguläre Kombattanten und einheimische Arbeitskräfte. Die italienische Kriegsmarine beförderte während des Krieges etwa 900.000 Personen – vor allem Soldaten, Beamte und Arbeiter – und mehrere hunderttausend Tonnen Material.

 

Die im Krieg eingesetzten Kriegsmittel, also die Waffen und Maschinen sowie die moderne Übermittlungstechnik und die Transportmittel, waren nicht nur zahlreicher, sondern auch qualitativ besser als jene, welche beispielsweise noch einige Jahre zuvor in Libyen verwendet worden waren: In Ostafrika wurden etwa 14.000 motorisierte Fahrzeuge eingesetzt. Das Waffenarsenal bestand aus 10.000 Maschinengewehren, 1.100 Artilleriegeschützen, 250 Panzern und 350 Flugzeugen, vor allem Aufklärungs iegern und Bombern. Die Kolonialtruppen setzten darüber hinaus systematisch Giftgas – vor allem Yperit und Phosgen – gegen die feindlichen Streitkräfte und die Zivilbevölkerung ein. Für damalige Verhältnisse waren die eingesetzten Mittel an chemischen Kampfstoffen enorm. Nach dem heutigen Forschungsstand wurden im Abessinienkrieg zwar keine bakteriologischen Waffen eingesetzt, aber die Freisetzung von Krankheitserregern wurde im Verlauf des Krieges immerhin diskutiert. Zudem war das Potenzial der Motorisierung und der Luftwaffe noch nie so stark ausgeschöpft worden, und zwar nicht nur im Kampf, sondern auch in der Logistik. Im Krieg experimentierte die Intendantur mit dem motorisierten Transport von Truppen und Saumtieren und sogar dem Verladen von leichten Fahrzeugen auf geländegängige Lastwagen. Mit Flugzeugen wurden ferner Luftbrücken errichtet und Nahrungsmittel, Kriegsmaterial und Mannschaften transferiert. Jeden Tag benötigte die Kolonialarmee mehr Treibstoff als die italienischen Streitkräfte im Verlauf des Ersten Weltkrieges insgesamt verbraucht hatten. Der grosse Bedarf resultierte unter anderem aus den unterschiedlichen klimatischen Umständen und dem unwegsamen Gelände in der Kolonie.

 

Die Methoden der Kriegführung im kolonialen Umfeld hatten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts überall radikalisiert. Im Abessinienkrieg erreichte der Umgang mit dem Feind jedoch eine neue Dimension. Der Krieg richtete sich nicht nur gegen die äthiopischen Kombattanten, sondern auch gegen die Nicht-Kombattanten. Die Zivilbevölkerung wurde nicht nur in Kampfhandlungen verwickelt, sondern auch vertrieben, vergewaltigt und interniert. Es galt die Devise, keine Kriegsgefangene zu machen. Frappant war vor allem die Art und Weise, wie der einheimischen Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen wurde, etwa durch das Abbrennen ganzer Landschaften, die Bombardierungen und die Vergiftung der Viehherden. Unter dem Ein uss der spezifischen Umstände der Kriegführung und der faschistischen Rassenpolitik steigerte sich die bereits vorhandene Rassendiskriminierung bald zum Rassenhass.

 

Die Bemühungen, den Krieg „unter Kontrolle“ zu halten, etwa in Hinsicht auf die Spionagetätigkeit oder die Zensur der privaten und amtlichen Korrespondenz sowie der Presse, waren sehr gross. Auffällig waren auch die Bestrebungen, in den bereits eroberten Gebieten „ungerechtfertigte“ Gewaltexzesse gegenüber der Zivilbevölkerung zu unterdrücken. Ohne das Vorhandensein eines bereits ausgebauten und eingespielten bürokratischen Apparats in der Zentrale – und, je nach Bedarf, der Einbindung der einheimischen Machtträger auf lokaler und regionaler Ebene – wäre zudem die Organisation des Krieges nicht in so kurzer Zeit zu bewältigen gewesen. Die Unterstützung wurde nicht zuletzt auch mit direkter beziehungsweise indirekter Gewalt erreicht. Hierbei sei an die Rassengesetze, welche in der Folge des Abessinienkrieges 1936, 1939 und 1940 die Grundlagen zur Rassensegregation in Ostafrika legten, hingewiesen.

 

In Anbetracht all dieser Merkmale kann dem Abessinienkrieg eine herausragende Stellung in der italienischen Militär- und Kolonialgeschichte zugesprochen werden und es lässt sich auch seine grosse Bedeutung für die politische Ideengeschichte Italiens erkennen. Obschon in der italienischen Propaganda und zum Teil auch in der Historiographie die Singularität des Abessinienkrieges hervorgehoben wurde, drängt sich ein Vergleich zu anderen Kolonialkriegen des frühen 20. Jahrhunderts auf. Die Parallelen fallen insbesondere bezüglich des Burenkrieges in Südafrika, dem Rifkrieg in Marokko oder der Invasion Japans in China auf: In Ostafrika gab es beispielsweise Konzentrationslager, es kam Giftgas zum Einsatz und die ideologische Komponente spielte ebenfalls eine wesentliche Rolle.

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