Tibet und die Younghusband-Expedition. Ein Ränkespiel der Grossmächte

AutorIn Name
Anna Géraldine
Müller
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2001/2002
Abstract

Die militärische Expedition der Briten unter Colonel Younghusband (im Jahre 1904) nach Lhasa stellte in der Geschichte Grossbritanniens, Russlands, Chinas und Tibets einen Wendepunkt dar und löste eine intensive Interaktion zwischen diesen Parteien aus. Tibet galt seit Jahrhunderten als freies, jedoch geheimnisvolles und unerreichbares Land. Wenige Male war Tibet vorübergehend von ausländischen Mächten gewaltsam geöffnet worden. So Ende des 19. Jahrhunderts, als die Younghusband-Expedition ihren Verlauf nahm und Tibet in eine bis heute währende, unglückliche Situation manövrierte. Der Expedition war seit 1870 eine langsame Annäherung der Briten an China und an Tibet vorausgegangen. Diese wurde von einigen einflussreichen Persönlichkeiten, wie dem Vizekönig Lord Curzon vor Ort in Britisch-Indien, gefördert und gebremst von einer unentschlossenen Regierung in London. Bei den ersten Kontakten standen Handelsplätze in China sowie in Tibet zur Diskussion, wobei dann Verträge über den Himalayastaat mit dem scheinbar zuständigen China abgeschlossen wurden. Als es 1893 um die Ratifizierung der Handelsverträge ging, stellte die indische Regierung fest, dass die Tibeter weder etwas von den Abmachungen wussten noch dass China über Tibet eine reelle Oberhoheit besass. Als Konsequenz daraus verhandelten die britischen Abgesandten direkt mit der Regierung in Lhasa. Diese lehnte jedoch aus mangelndem Handelsinteresse und aus religiösen Gründen jegliche Kontakte mehrmals klar ab. Die in Indien verantwortlichen „men on the spot” waren, im Gegensatz zur Regierung in London, nicht gewillt, so rasch aufzugeben. Zu verlockend waren Teeexporte sowie Importe von Tieren und Wolle. Ganz zu schweigen von den in Tibet vermuteten immensen Goldvorkommen. Ausserdem zog Tibet seit jeher Abenteuerlustige und Forscher an. Aufgrund dieses breit gefächerten Interesses wuchs der Druck auf die britische Regierung für eine Genehmigung zu einer Kontakt- und Forschungsexpedition nach Tibet stetig.

 

Den entscheidenden Ausschlag für einen positiven Entscheid lieferten Gerüchte über russische Aktivitäten in Tibet. Russische Abgesandte des Zaren schienen die tibetische Regierung politisch zu infiltrieren. Solche Gerüchte wurden bis 1901 besonders durch Curzon gezielt gestreut, übertrieben oder gar erfunden. Die Angst der britischen Regierung vor einer russi- schen Einnahme Tibets oder dem eigenen Verlust an Einfluss im asiatischen Raum wurde so gross, dass eine zweimonatige Expedition (offiziell „Handelsexpedition“) genehmigt wurde. Diese Younghusband-Expedition startete im Juni 1903 in Darjeeling, sie dauerte viel länger als erwartet, nämlich bis September 1904; sie stürzte alle Beteiligten in grosse Schwierigkeiten, und sie wandelte sich in ihrem Verlauf in eine militärische und politische Mission mit vielen Opfern um. Von Beginn an zeigte sich, dass die britische Regierung blauäugig dem Drängen einiger „men on the spot“ nachgegeben hatte. Denn unerwartet vernichtend war die Kritik auf die Expedition im In- und Ausland, wo Konsequenzen angedroht wurden. Die russische Regierung intervenierte und verlangte für ihre Nichteinmischung von den Briten anderweitig Zugeständnisse. China entdeckte durch das britische Vorgehen in Tibet selber seine Chancen, nistete sich als Vermittler in Tibet ein und wartete ab. Neben dem politischen Druck, dem Grossbritannien ausgesetzt war, beeinflussten die Probleme der Expeditionsteilnehmer die politischen Entscheide gewaltig. Die Expeditionsleitung war zerstritten, Fehlentscheide häuften sich und die Zusammentreffen mit den völlig unerfahrenen und überforderten tibetischen Gesandten endeten katastrophal. Unglückliche Zufälle und Unkenntnis der anderen Kultur provozierten Scharmützel und diese führten schliesslich zum Krieg einer militärischen Grossmacht mit allen verfügbaren Mitteln und Personen gegen kleine Grüppchen von speertragenden Mönchen, welche dabei zu Tausenden ihr Leben liessen.

 

Das Drama nahm mit dem Eintreffen Younghusbands in Lhasa sein Ende. Dieser ernannte anstelle der geflüchteten tibetischen Regierung, unter dem Vorsitz des Dalai Lama, eine Marionettenregierung und schloss mit ihr einen von den übrigen Grossmächten stark kritisierten und durch die eigene Regierung nicht genehmigten Friedensvertrag ab. Daraufhin reiste Younghusband nach Indien zurück, wo ihn statt Lob und Huldigung über seine Bezwingung des Dachs der Welt Vorwürfe betreffend Verrat und Befehlsmissachtung erwarteten. Er verschwand von der Bildfläche, während seine Mentoren sich abwandten und dank ihrer höheren Position verschont blieben. Die Regierung in London musste, um die Grossmächte zu beruhigen, diverse Zugeständnisse machen und den Friedensvertrag von Lhasa widerrufen. Das sich abzeichnende Vakuum in Tibet füllten die Chinesen ohne zu zögern aus. So hatten um 1900 die Grossmächte im asiatischen Raum ihr Ränkespiel um Macht, Politik und Einfluss geführt und das hilflose Tibet war als Spielball mitten hineingeraten. Es bezahl- te den höchsten Preis: den Verlust seiner Freiheit und Souveränität.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken