born digitals und die historische Wissenschaft – Annäherungen an eine Quellenkunde für genuin elektronisches Archivmaterial

Autor / Autorin des Berichts
Diana
Ascher
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Zitierweise: Ascher, Diana: born digitals und die historische Wissenschaft – Annäherungen an eine Quellenkunde für genuin elektronisches Archivmaterial, infoclio.ch Tagungsberichte, 10.03.2023. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0298>, Stand: 12.12.2024

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Am 30.-31. August 2022 versammelte ein Expertenworkshop rund 30 Historikerinnen und Archivare im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Duisburg, um gemeinsam Fra­gen der Übernahme genuin elektronischer Unterlagen und deren Nutzung zu diskutieren.1 Bereits jetzt übernehmen Archive Da­ten aus elektronischen Systemen und treffen zahlreiche nicht reversible Entscheidungen, wobei die Quellen weitaus stärker geformt werden als dies die entsprechenden Ar­beitsschritte im analogen Bereich erfordern. Gleichzeitig werden elektronische Daten – auch in gro­ßer Menge – von Zeithisto­rikerinnen und -historikern bereits genutzt und ausgewertet. Im Zuge die­ser digitalen Transforma­tion ist die Zusammenarbeit und der Austausch beider Disziplinen unerläss­lich, da die Überlieferung stetig anwächst und zukünftig erweiterte Kompetenzen der Quellenkritik notwendig werden.

Um den Austausch zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft zu fördern, wurden die Vorträge aus beiden Disziplinen als Tandem organisiert. Nach der Begrüßung durch den Präsidenten des Lan­desarchivs NRW, FRANK M. BISCHOFF (Duisburg), und ANDREAS FICKERS (Luxemburg), eröffnete BETTINA JOERGENS (Duisburg) die erste Sektion mit einem Einstieg in die zentralen Fragestellungen des Workshops. In ihrem Impulsvortrag stellte sie vier Bausteine für eine toolbox zur kritischen und methodengeleiteten Auswertung von genuin elektronischem Archivgut vor. Vorausgesetzt würden dabei Kenntnisse über solche Quellen bzw. Archivalientypen. Für die Einordnung dieser Archivalien sei das Verständnis von der digitalen Beschaffenheit notwendig, was die Datenintegrität, die Daten- und Metadatenstruktur sowie den Status der Repräsentationen einschließe. Weiter müsse die «Echtheit der Quelle» bzw. ihre Authentizität geprüft werden, was Kenntnisse über den Kontext, die Überlieferungsgenese und den Archivierungsprozess bedinge. Schließlich befähige dieses Ver­ständnis der Entstehungszusammenhänge, das Archivgut mithilfe von Kontext- und Metadaten ein­zuordnen. Dass alle Historikerinnen und Historiker mit dem Thema in Berührung kommen und sich zu digitalen Geschichtsforschenden entwickeln werden, prognostizierte Andreas Fickers, der das Thema der Veranstaltung aus Sicht der Geschichtswissenschaft reflektierte. Allerdings seien Uni­versitäten konservative Einrichtungen, sodass der Gap zwischen den vorhandenen Quellen und de­ren Aneignung größer werde. Auch wenn die Grundfragen fortbestünden, sei eine digitale Datenkritik und somit ein «Update der klassischen Hermeneutik» erforderlich. Mannigfaltige methodologische Herausforderungen würden zu bewältigen sein, etwa Fragen zum Umgang mit Massendaten, gesetz­lichen Einschränkungen oder der Nachhaltigkeit von Daten. Dies erfordere neue Methoden wie z.B. Analysen von Algorithmen oder neuen Formen des Lesens. Zudem sei eine veränderte politische Ökonomie zu konstatieren, bei der es eine Macht- und Kompetenzverlagerung von der Institution zu den Nutzenden gebe, da diese auf ihren Laptops eigene Archive unterhielten.

Die bekannte Welt der Papierakte, die die Überlieferungssituation im Zeitraum von ca. 1500 bis 2000 prägte, wird durch die Überlieferung digitaler Informationsobjekte aus zahlreichen komplexen IT-Systemen abgelöst. Digitale Informationen liegen nicht mehr aktenmäßig, sondern nur noch als Ein­zelinformationen in verschiedenen IT-Systemen verteilt vor. Daher ist nach BASTIAN GILLNER (Du­isburg) für die frühe digitale Überlieferungsschicht von einer «durchlöcherten» Quellenbasis auszu­gehen. Durch die Steuerung der digitalen Transformation durch das E-Government-Gesetz zeichne­ten sich jedoch auch positive Entwicklungen ab, in der die strukturierte Verwaltungsorganisation auch im digitalen Bereich ein Comeback erlebe, sodass zu hoffen sei, dass sich die digitalen dark ages vielleicht auf zwei bis drei Jahrzehnte begrenzen ließen. Nach MALTE THIEßEN (Münster) müs­sen die digitale Überlieferung von Verwaltungsquellen und die Verwaltungsgeschichte neu gedacht werden. Impulse zur Überlieferungsbildung sollten von allen Zeithistorikerinnen und -historikern ausgehen und zwischen Verwaltung, Archiv- und Geschichtswissenschaft müsse ein Trialog statt­finden. Als Probleme und Potentiale der Digitalität beschrieb er die digitale Unsichtbarkeit von Ver­waltungshandeln durch das Überschreiben älterer Versionen. Webseiten und Social Media sollten als «Visitenkarten» der Verwaltung übernommen werden, weil sie deren Verdichtung, Vertiefung und den Wandel von Selbstbildern dokumentieren. Dabei sollten die Funktionalitäten der Webseiten ähn­lich wie bei der Wayback Machine als ergiebige Quelle bewahrt bleiben. Wünschenswert sei es, E-Mails und Messenger-Dienste als Potentiale neuer Schriftlichkeit zu überliefern.

Zu den Spezifika elektronischer Unterlagen benannte CHRISTINE FRIEDERICH (Dresden) drei zent­rale Aspekte aus dem Bereich der Überlieferungsbildung, die für Archive und die Geschichtswissen­schaft von Bedeutung seien: erstens die Variabilität durch die Flüchtigkeit der technischen Entwick­lung, bei der Archivare stärker in digitale Objekte eingreifen und Entscheidungen treffen müssen, obwohl zukünftige Entwicklungen unbekannt sind. Zweitens das verteilte Vorliegen der Daten, die das Pro­venienz- und Sprengelprinzip in Frage stellen, und drittens die Menge, bei der die Reduktion und die Schaffung eines Destillats für die Geschichtswissenschaft ein wichtiger Service der Archive dar­stellt. Dabei sei entscheidend zu wissen, was die Wissenschaft brauche.

MARTIN SCHMITT (Potsdam / Darmstadt) referierte über Softwarearchivierung und erläuterte den Erkenntnisgewinn, um Machtprozesse, Arbeitsweisen oder internationale Dimensionen zu dokumen­tieren. Vor diesem Hintergrund sei die Programmiersprache als transnationale Sprache zu verste­hen, die einen wichtigen Beitrag zur Globalgeschichte der Wissensproduktion leiste. Emulationen berücksichtigen Archive aufgrund des Erhaltungsmanagements über Migrationen bislang jedoch weniger.

In der zweiten Sektion erfolgte eine Bestandsaufnahme des bereits aus den Verwaltungen übernom­menen elektronischen Archivguts und es wurde nach Methoden der quellenkritischen Einordnung und Auswertung gefragt. Verschiedene Bereiche, die bei schwach strukturierten Daten in Form von Office-, Bild- und personenbezogenen Dateien mitgedacht werden müssen, fächerten KAI NAUMANN (Stuttgart) und KATRIN MOELLER (Halle) in ihrem gemeinsamen Vortrag auf. Bei diesem Phänomen der 2000er Jahre wird die Papier- durch die Festplattenablage ersetzt, deren Datenstrukturierung von schwach bis stringent reicht. Im Unterschied zu Papierfotos zeichnen sich Digitalfotos durch automatisch mitgeführte Metadaten aus, besitzen jedoch sonst geringe Authentizität. Eine Quellen­kritik sei daher dringend erforderlich. Zukünftig werden Auswertungsumgebungen wie Entitäts-, In­halts- und Kontexterkennung die Provenienzzuordnung und Quellenkritik vereinfachen und distant reading für Dateisammlungen und tendenziell größer werdende Bestelleinheiten immer wichtiger. Die Speicherform bestimmt die Möglichkeiten der Nachnutzung von Dateien, sodass wenn immer möglich maschinell auswertbare Daten übernommen werden sollten. Erstrebenswert sei, gemein­same Identifikationskriterien und Prinzipien der Kategorienbildung in aggregierten Daten zu nutzen und zu entwickeln. Bei personenbezogenen Daten müssten rechtliche und ethische Aspekte berück­sichtigt werden.

E-Mails als digitale Quellen, bei denen Amtliches und Privates verschwimmen, waren Thema des Vor­trags von MARIA BENAUER (Wien) und ESTHER HOWELL (München). Einerseits handle es sich um Nachrichten, die eine funktionale Kontinuität in behördlichen Schreiben suggerieren, bei der die tex­tuelle Information und der Geschäftsgang im Fokus stehen. Andererseits fungiere die E-Mail als Ac­count, als persönliche Sammlung von Korrespondenzen, in der kontextuelle Informationen vorliegen. E-Mails können nach Benauer demnach gewissermaßen als «quellenkundliches Chamä­leon» be­trachtet werden. Eine digitale Quellenkunde würde sowohl einen Mehrwert für die archivi­sche Be­wertung als auch für deren Auswertung darstellen. Esther Howell konstatierte, dass aufgrund der Masse der E-Mails die Überlieferungsbildung erschwert und die Erschließung eher flach sei. Die Be­reitstellung sei aufgrund der Datenschutzproblematik schwierig und Suchfunktionalitäten seien un­genügend, da bereits zu Beginn der Recherche klar definiert sein müsse, wonach gesucht werde. Sie stellte ePADD als Open-Source-Software für die Archivierung und Zugänglichmachung von E-Mails als historische Quellen vor, die 2010 durch die Universität Stanford u.a. als All-In-One-Lösung zur Übernahme, Bewertung, Erschließung und Zugänglichmachung von E-Mailsammlungen entwi­ckelt wurde. Über ePADD könnten ganze Berufsleben und Netzwerke abgebildet werden. In Deutsch­land ist ein ähnliches Tool bislang nicht verfügbar, wobei Fragen der Langzeitsicherung einer sol­chen Softwarelösung geklärt werden müssten und gegebenenfalls europäische Kooperationen wei­terfüh­rend sein könnten.

Für den Bereich digitale Medien, Webseiten und Social Media spielen nicht nur rechtliche Fragen, son­dern auch archivische Anforderungen eine zentrale Rolle. Die Dynamik dieser Quellen verwandelt sich bei der Übernahme in etwas Statisches, auch wenn versucht wird, Funktionalitäten zu erhalten. PASCAL FÖHR (Solothurn) fragte, was überhaupt bei abhängigen Inhalten, dynamischen Darstellun­gen oder responsive design gesichert werden soll und was aus rechtlicher Perspektive übernommen werden darf. Archivarinnen und Archivare müssten Lösungen finden und dokumentieren, ob Metain­formationen zur Erstellung oder Aktualisierung einer Webseite existieren, wie Verlinkungen anderer Zeitschichten aufzulösen oder die Reihenfolge eines Twitterfeeds festzulegen seien. Dabei könnten nur Zeitschnitte exemplarisch und ohne Links übernommen werden. Im Gegensatz zu den statischen Webseiten der 1990er Jahre handelt es sich heute um hoch komplexe dynamische Gebilde: Je viel­schichtiger, desto komplizierter ihre Archivierung. Dabei gibt es nach MICHAEL JERUSALEM (Müns­ter) keinen einheitlichen Lösungsweg, sondern nur Einzellösungen, da jede Webseite neu beurteilt werden müsse. Über die Festlegung signifikanter Eigenschaften könnten nur Surrogate überliefert werden, bei denen zu klären sei, wie diese einzuordnen sind.
 
Die dritte Sektion war als «Workshop im Workshop» ausgerichtet, in dem digitale Systeme als Basis für Archivgut und historische Quellen präsentiert wurden. SIGRID SCHIEBER (Wiesbaden) stellte die DOMEA-basierte E-Akte HeDok der hessischen Landesverwaltung vor und beleuchtete diese unter drei Aspekten: die E-Akte und ihre Metadaten im DMS, die E-Akte in ausgesonderter Form (Dokum­entwandlung) und die Herausforderungen für die Quellenkunde, u.a. in Bezug auf DMS-Datenverluste. Schließlich bot der Vortrag von FRANZISKA KLEIN (Duisburg) praktische Einblicke in die Übernahme von Fachverfahrensdaten aus BASIS-Web (Verwaltung des Justizvollzugs; XML) und eKopa (Konjunk­turpaket II; PDF und SIARD). Für die Daten und einzukalkulierende Informationsverluste sei eine um­fassende Quellenkritik notwendig, da Archive definieren, was übernommen wird, nicht jedes Format erhalten werden könne und die von Archiven konstruierten Daten kaum noch einen Evidenzwert er­kennen ließen.
 
Die Abschlussdiskussion verdeutlichte die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft, um die Herausforderungen der digitalen Transformation als Chancen anzunehmen. Neben der dauerhaften Erhaltung elektronischer Unterlagen muss gewähr­leistet werden, dass diese Quellen zukünftig kompetent eingeordnet und ausgewertet werden kön­nen. Der fachliche Austausch soll im Rahmen des 27. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Ar­chivschule Marburg zum Rahmenthema «Archivists meet Historians – Transferring source criticism to the digital age» und des 54. Deutschen Historikertags in Leipzig zum Thema «Fragile Fakten» in der Sektion «Das Ende des Originals?» fortgesetzt und die Erarbeitung einer methodenbasierten «Quellenkunde für genuin elektronisches Archivgut» gefördert werden.
 
 


Anmerkungen
1 Die Autorin des Berichts arbeitet seit Juli 2022 im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und war nicht in die Organisation der Tagung involviert.
 

Tagungsprogramm

Frank M. Bischoff (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Andreas Fickers (Universität Luxemburg): Begrüßung
 
Sektion I – Einführendes und Grundlegendes

Moderation: Christian Keitel (Landesarchiv Baden-Württemberg)
 
Bettina Joergens (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Andreas Fickers (Universität Luxemburg): born digitals und die historische Wissenschaft – Annäherungen an eine Quellenkunde für genuin elektronisches Archivmaterial von zwei Seiten
 
Bastian Gillner (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Malte Thießen (LWL-Institut für Regionalge­schichte): Digitalisierung der Verwaltung und Digitalisierung aller künftigen Quellen
 
Christine Friederich (Sächsisches Staatsarchiv), Martin Schmitt (Leibniz-Zentrum für Zeithistori­sche Forschung Potsdam und TU Darmstadt): Spezifika elektronischer Unterla­gen
 
Sektion II – Datentypen und -formate als Archivgut und historische Quellen

Moderation: Martin Schlemmer (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen)
 
Kai Naumann (Landesarchiv Baden-Württemberg), Katrin Moeller (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Digitale Quellen: Officedateien, Bilddateien, Personenbezogene Dateien
 
Esther Howell (Institut für Zeitgeschichte München), Maria Benauer (Universität Wien): Digitale Quellen: Emails
 
Michael Jerusalem (Stadtarchiv Münster), Pascal Föhr (Staatsarchiv Solothurn): Digitale Quellen: Websites und Social Media
 
Sektion III – «Workshop im Workshop»: Digitale Systeme als Basis für Archivgut und historische Quellen

Moderation: Christian Keitel (Landesarchiv Baden-Württemberg)
 
Sigrid Schieber (Landesarchiv Hessen): Digitale Quellen: Elektronische Akten
 
Franziska Klein (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen): Digitale Quellen: Fachverfahren
 
Abschlussdiskussion

Moderation: Frank M. Bischoff (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen)
 
Kommentar: Tim Geiger (Institut für Zeitgeschichte Berlin)

Veranstaltung
born digitals und die historische Wissenschaft – Annäherungen an eine Quellenkunde für genuin elektronisches Archivmaterial
Organisiert von
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Veranstaltungsdatum
-
Ort
Duisburg
Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference