Die Erforschung der Alphabetisierung einer Gesellschaft ist so etwas wie die Klimageschichte der Kultur: Grundlagenforschung über die Möglichkeiten der Teilnahme von Frauen und Männern an den schriftlichen Diskursen ihrer Zeit. Die lange vorherrschende Meinung, in Mitteleuropa hätten um 1770 lediglich 15% der Menschen lesen können und erst die Aufklärung oder der liberale Staat des 19. Jahrhunderts hätten dies geändert (vor allem infolge Rudolf Schendas ‹Volk ohne Buch›, 1970), wurde von der Forschung mehrfach zu widerlegen versucht. Doch muss deren statistische Argumentationsbasis als dünn bezeichnet werden: Denn um Alphabetisierungsraten vor 1800 zu ermitteln, hat sich besonders die westeuropäische Forschung auf serielle Quellen mit Unterschriften stützen müssen, – eine dubiose Quelle für die Beantwortung der Fragen: «Wer kann lesen und wer schreiben?»
Nur wenige Lokalstudien konnten auf direkte Angaben zu Lese- und teilweise auch Schreibfähigkeiten zurückgreifen. Sie stützten sich auf sogenannte «Seelenbeschreibungen» – Gemeindeverzeichnisse von Pfarrern, die ab dem 17. Jh. auftauchen. Als Beschreibungen der Seelen – und nicht der Körper – waren sie Messinstrumente des persönlichen Glaubenswissens von Einzelpersonen; und damit auch der Alphabetisierung und Lektüre einfacher Leute. Gegenwärtig ist die Alphabetisierungsforschung in Europa fast zum Erliegen gekommen, weil solche «besseren Quellen» als Raritäten gelten.
Dabei übertreffen die im Staatsarchiv Zürich (STAZH) vorhandenen Seelenbeschreibungen die bekannten Bestände Europas in quantitativer und qualitativer Hinsicht bei weitem. Alleine zum Stand Zürich sind für die Zeit von 1630 bis 1770 über 2000 Seelenbeschreibungen vorhanden (als «Bevölkerungsverzeichnisse»: 1735; als «Haushaltungsrödel»: ca. 400). Bei strenger Quellenkritik liefern ca. 100 umfassende und verlässliche Daten mindestens zur Lesefähigkeit von Druckschrift. Sie erfassen rund 55‘000 Erwachsene aus über 60 Gemeinden der Stadt und Landschaft. Und das oft schon für das 17. Jh. Die Schreibfähigkeit wurde seltener erhoben, kann aber partiell mitausgewertet werden.
Zudem können die Einflüsse auf die Alphabetisierung ermittelt werden: Alter und Geschlecht sind durchgehend, Berufe meist, der Schulbesuch teilweise verzeichnet. Als vergleichslos müssen die zahlreichen Buchbesitzangaben gelten. Damit können religiöse (z.B. pietistischer Lektürebesitz) und kulturelle Impulse direkt gemessen werden. Externe Quellen zum sozialen Status von Haushalten sowie zur lokalen Bildungspraxis lassen bisher einmalige Detailstudien auf Einzelperson- und Gemeindeebene zu. Trotz dieses Potentials wurde der Zürcher Bestand von der Bildungsforschung bislang nur teilweise und summarisch berücksichtigt.
Mit der Studie wird ein wesentlicher Beitrag zur europäischen Konfessionalisierungsforschung geleistet, die die Geschichte des niederen Bildungswesens bislang wenig thematisiert hat. Denn die Studie zählt nicht nur, sondern bettet die Befunde in den kirchen- und sozialgeschichtlichen Kontext des Dorfes bzw. der Stadt ein. Mit der umfassenden Analyse der bisher kaum erforschten Quellengattung «Seelenbeschreibungen», die ab dem 17. Jahrhundert europaweit und konfessionsübergreifend auftauchen, wird der Fundamentalprozess der Alphabetisierung im Kontext der Konfessionalisierung neu beleuchtet. Es war nicht erst die Aufklärung, die ‹das Volk› zum Lesen brachte.
Wie die bisher einzige detaillierte Studie zu Seelenbeschreibungen in Sachsen-Gotha zeigt: Hausvisitationen, Bildungs- und Sozialreformen dienten vereint einer ‹Reformation des Lebens› als Ausdruck eines frühneuzeitlichen Reformprotestantismus. Die Untersuchung weiterer europäischer Seelenbeschreibungen wird das Bild komplettieren: Ähnliche Prozesse fanden mehr oder weniger parallel an verschiedenen Orten Europas statt. In Zürich war es Antistes J.J. Breitinger (1575–1645), der die Reformen vorantrieb – und zwar inmitten einer doppelten konfessionellen Bedrohungslage. Von ‹aussen›, wo sich der Dreissigjährige Krieg, gerade infolge der gewaltsamen Rekatholisierungspolitik im Reich und des Kriegseintritt Schwedens, mehrfach gefährlich den eigenen Grenzen näherte und zeitweise einem ‹Heiligen Krieg› gegen die Protestanten nahekam. Und von ‹innen›, wo sich lokale Streitigkeiten zwischen Zürich und den katholischen Orten beinahe zum eidgenössischen Konfessionskrieg ausweiteten (‹Matriminonial- und Kollaturstreit›); die Rekatholisierung in den angrenzenden gemischtkonfessionellen Gemeinen Herrschaften voranschritt; Andersgläubige, Täufer, Katholiken und Lutheraner, Kriegsgeflüchtete und Konvertierte in reformierte Kirchgemeinden integriert werden sollten; Solddienstleistende aus konfessionell ‹fremden› Gebieten zurückkehrten; und parallel der alte Konflikt mit den pazifistischen und anhaltend präsenten Täufern neu Stufe eskalierte.
Die Bildungs- und Sozialreformen waren eine Antwort auf diese konfessionelle Bedrohungslage. Sie sollten den einzelnen Menschen in seinen in seinen Glaubensüberzeugungen stärken – in der Vorstellung, ihre Seelen retten zu müssen und die eigene Konfession, den ‹einzigen wahren Glauben› schützen zu können. Die Seelenbeschreibungen dienten der Kirche als Evaluationsinstrument, vor allem religiöser Bildung, bis aufklärerische Schulumfragen sie zumindest in Zürich ablösten. Die Alphabetisierung resp. ihre Messung ist vielerorts ein Produkt der Konfessionalisierung, entstanden aus der konfessionellen Bedrohungslage im Umfeld des Dreissigjährigen Kriegs, zwischen Reformation und Aufklärung. Zürich fungiert damit als Fallbeispiel im bildungs-, kirchen- und sozialgeschichtlichen Kontext des frühneuzeitlichen Europas.