Augen auf! Wie Public History koloniale Spuren sichtbar machen kann

Auteur du rapport
Silvester
Backe-Popescu
Citation: Backe-Popescu Silvester: « Augen auf! Wie Public History koloniale Spuren sichtbar machen kann », infoclio.ch Tagungsberichte, 19.08.2025. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0362>, consulté le 21.08.2025

Verantwortung: Marina Amstad / Monique Ligtenberg / Marilyn Umurungi

Referierende: Marina Amstad / Marilyn Umurungi / Tomás Bartoletti / Simone Rees / Monique Ligtenberg / Philipp Krauer

 

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‹Die Schweiz› war «lediglich an einer [Dimension des Kolonialismus] nie direkt beteiligt – an der staatlich-politischen. Alle übrigen Dimensionen […] hat sie mitgestaltet und wurde von diesen selbst nachhaltig geformt.»1 Das Bewusstsein für die ‹Schweizer› Kolonialbeteiligung wird durch eine stei­gende Zahl von Publikationen, Ausstellungen und Public-History-Projekten sichtbar, die Konturen der kolonialen Vergangenheit treten immer deutlicher hervor. Delegierte von vier Public-History-Projekten in den Formaten Ausstellung, Online-Vermittlung und Stadtführung diskutierten über ihre Vermittlungsarbeit und loteten Potenziale und Grenzen der Geschichtsvermittlung in der öffentli­chen Sphäre aus.

 

MARINA AMSTAD und MARILYN UMURUNGI (Zürich) beleuchteten Konzept und Herausforderungen der Ausstellung «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum in Zürich (13.09.2024 – 19.01.2025).2 Sie gingen insbesondere auf übergeordnete Fragen ein, die in den elf Aus­stellungsbereichen verhandelt wurden. Der Schwierigkeit etwa, die überwiegend gewaltvolle Ge­schichte adäquat zu erzählen, wurde mit der didaktischen Veranschaulichung und Kontextualisie­rung der Motive jeden Ausstellungsbereichs begegnet. Um koloniale Nachwirkungen darzustellen, wurden Themen wie Neokolonialismus, wirtschaftliche Kontinuitäten, Rassismus oder Lebensreali­täten von Nachfahren in fast jedem Ausstellungsbereich behandelt. Und es kamen Expertinnen zu Wort, ebenso wie zeitgenössische Kunstschaffende. Die Ausstellung lenkte öfter den Fokus weg von der Perspektive dominierender Kolonialmächte: Hierfür wurden etwa Biografien ‹ausserhalb der Scheinwerfer›, aktive Widerstandshandlungen gegen Versklavung und Zwangsarbeit sowie Formen des passiven Widerstands wie der geheime, selbst initiierte Schwangerschaftsabbruch präsentiert. Die Ausstellung abschliessend thematisierten Expertinnen und Experten in einem virtuellen Debat­tenraum blinde Flecken in Forschung und Gesellschaft sowie koloniale Kontinuitäten.

TOMÁS BARTOLETTI (Zürich) präsentierte «Naming Natures – Natural History and Colonial Legacy», eine Ausstellung im Naturhistorischen Museum Neuchâtel (15.12.2024 – 18.08.2025).3 Sie behandelte die konfliktbehaftete naturhistorische Sammlungs- und Forschungspraxis im kolonialen Kontext, hinterfragte Rolle und Motive kolonialer Forscher bei der Schaffung wissenschaftlichen Wissens und deckte die Inszenierung überseeischer Exponate sowie der Forschenden als koloniale Machtaus­übung auf. Mit wissenschaftlichen, historischen und museografischen Ansätzen wurde etwa den Fragen nachgegangen, wie koloniale Sammlungen heute zeitgemäss, verantwortungsvoll und kon­textuell gezeigt werden können oder welche Verantwortung Museen gegenüber betroffenen Gemein­schaften zukommt. Gezeigt wurden Archivmaterial, im kolonialen Kontext angeeignete Ob­jekte aus der hauseigenen Sammlung sowie Werke zeitgenössischer lateinamerikanischer Kunstschaffender.

In der Ausstellung wurden Aneignung und Benennung der ‹Sammlungsgegenstände› dekonstruiert. Taxonomien und Nomenklaturen, die sich als wissenschaftlich-sachlich und objektiv präsentieren, drücken vielmehr oft Werte, rassistische Zuschreibungen und Interessen kolonialer Herrschaften oder Forschender aus. Mit den Werken zeitgenössischer Kunstschaffender, vor allem aus Peru, bot die Ausstellung einen dialektischen Gegenentwurf zum kolonialen Deutungsrahmen. Die Kunst griff ursprüngliche Bedeutungen gezeigter Objekte auf und stellte sie wieder in den Kontext der Ur­sprungskultur, aus der sie entrissen worden waren.

SIMONE REES (Fribourg) stellte das digitale, regionalgeschichtliche Projekt «colonial local» vor. Die spezifischen kolonialen Verflechtungen des ländlich geprägten, katholischen Fribourg werden durch diese digitale Plattform offengelegt. Die Website richtet sich an ein breites Publikum, besonders jüngere Besuchende, und kuratiert Inhalte, die auch für den Schulunterricht geeignet sind. Perspek­tivisch werden Lernmedien in Verbindung mit der Website entwickelt, und das Projekt steuert für die Rundgänge der Stadt Fribourg ein Kapitel zur Kolonialgeschichte bei, wie Rees ausführte.

«colonial local» bietet ausserdem einen Blog und ein Glossar. Im Umgang mit gewaltvoller Sprache und Bildern, die der Thematik inhärent sind, sei die potenziell dauerhafte Verfügbarkeit im Netz eine Herausforderung. So wurde bewusst auf die Reproduktion kolonialer Bilder und Sprache verzichtet. Stattdessen illustrieren abstrakte Collagen die jeweiligen Themen und es wird eine sensible Sprache genutzt. Durch die Arbeit an der Website konnten auch neue Quellen zur Fribourger Kolonialge­schichte erschlossen werden.

MONIQUE LIGTENBERG und PHILIPP KRAUER (Zürich) stellten den Verein «ZH Kolonial» vor, der Bei­träge zur Kolonialgeschichte von Zürcherinnen und Zürchern oder der Stadt Zürich sammelt und ei­nem breiten Publikum vermittelt. «ZH Kolonial» bietet verschiedene Formate, etwa Texte und pro­fessionell eingelesene Audios auf der Website, physische Stadtrundgänge sowie einen Instagram-Kanal. Der Verein stellt einen redaktionellen Prozess bereit, über den neue Beiträge zur Zürcher Ko­lonialgeschichte auch von Externen eingebracht werden können.

Dank einer grossen Nachfrage nach Stadtrundgängen würden in Zusammenarbeit mit der Anny-Klawa-Morf-Stiftung weitere Guides ausgebildet, so die Referierenden. Ausserdem würden unter Leitung der Stiftung kolonialgeschichtliche Rundgänge nach diesem Vorbild für andere Städte entwickelt.

 

Im Anschluss diskutierten die Referierenden einige übergreifende Fragen. Zunächst ging es um die Herausforderung, Gewalt und Rassismus zu vermitteln, ohne diese zu re­produzieren. Die Vermittlung kolonialer Vergangenheit und ihrer Nachwirkungen erfordert – resü­mierend aus den Ausführungen der Referierenden – ethische und didaktische Entscheidungen: Wel­cher Inhalt wird vermittelt, wie wird er kontextualisiert und problematisiert, zeigt man koloniale Ge­walt offen oder verdeckt oder spart man sie (ganz) aus? Gewalt, in all ihren vielfältigen Formen, wirkt auf Individuen und Gemein­schaften und über die Zeit fort. So wies Marilyn Umurungi darauf hin, dass Kuratorien nicht bestim­men kön­nen, was andere als rassistisch oder gewaltvoll empfinden. Im Landesmuseum habe man daher runde Tische organisiert und Stakeholder aus dem Kreis Betroffener einbezogen. Tomás Bar­toletti wies auf die in Neuchâtel umgesetzte Abdeckung zahlreicher Exponate hin, die Besuchenden eine «performative Handlung des Sichtbarmachens» ermögliche, eine reflektierte Gewaltdarstel­lung ad­ressiere und eine «Gelegenheit zum selektiven Sehen» biete. Kurationsentscheide hängen ausser­dem vom Format des Vermittlungsangebots ab, wie Simone Rees verdeutlichte. Und Monique Ligten­berg führte aus, dass Ausstellungen - mehr als Stadtrundgänge - bewusste Entscheidungen er­forder­ten, was und wie etwas gezeigt wird.

Wer vermittelt Kolonialgeschichte und wer hat (k)eine Stimme? Wie kann man transnational for­schen, ausstellen, vermitteln? Die Projekte gehen diese Herausforderungen unterschiedlich an, doch alle verfolgen einen multiperspektivischen, inter- oder transdisziplinären Ansatz: Neben breit auf­gestellten Kuratorien zeigte sich eine fachübergreifende Beteiligung bei der Konzeption als wesent­lich, etwa durch Einbindung von Forschenden verschiedener Disziplinen, Kunstschaffender, Exper­tinnen für visuelle Kommunikation oder Szenographie und Webdesigner. Wichtig war allen Projekten der Einbezug von Stimmen aus dem globalen Süden: Nachfahren kolonisierter Gesellschaften, Künstlerin­nen aus ehemaligen Kolonialgebieten oder heute von Rassismus Betroffene – um ein breit abge­stütztes und reflektiertes Vermittlungskonzept zu gestalten, Deutungshoheit zu verteilen und Multi­perspektivität zu realisieren. Die Einbindung verschiedener Perspektiven und die transnatio­nale Ver­mittlung seien vielfach herausfordernd, führte Marilyn Umurungi aus. Der Beteiligung inter­nationaler Akteure stünden Hürden im Weg, etwa bei der Finanzierung, was Machtasymmet­rien fort­setze. Das birgt das Risiko, Geschichte weiterhin mit der Stimme der Kolonisatoren zu erzählen. Demgegenüber können mittels Kunst neue Erzählweisen und Sensibilitäten im Umgang mit kolonia­len Quellen erschlossen werden, so Tomás Bartoletti - auch wenn Transdisziplinarität die Kommuni­kation im Projekt generell anspruchsvoller mache. Die Kunst sei zudem, ergänzte Marina Amstad, ein pragmatischer, kostengünstiger Weg, Perspektiven aus dem globalen Süden in den Dis­kurs aufzunehmen.

Thematisiert wurden auch die Lücken im Archiv, die für die Kolonialgeschichte eine besonders grosse Herausforderung darstellen: Die Quellenlage ist durch eine eurozentrische Perspektive ge­prägt, da die Sichtweisen der Kolonisierten häufig gar nicht, nur lückenhaft oder durch ‹die Brille› der Kolonisatoren überliefert sind. Zentral sei, so Simone Rees, das Publikum mit diesen Lücken zu «konfrontieren», also Leerstellen aufzuzeigen, die Relativität historischen Wissens zu erläutern und den Hintergrund dieser Lücken transparent zu machen – ebenso wie diesbezügliche Entscheide im Vermittlungsprojekt.

Schliesslich diskutierte das Panel Herausforderungen im Umgang mit Kritik. Vorstellungen in der Öf­fentlichkeit und die Positionierung von Medien zu kolonialen Themen könnten Kuratierenden das Narrativ entreissen und sie in die Statistenrolle drängen, konstatierte Philipp Krauer. Bezogen auf kritische Besuchende empfahl Simone Rees, sich in diese hineinzuversetzen. Die Dekonstruktion kolonialer Erzählungen könne Kindheits- oder Familienerfahrungen berühren und Ablehnung hervor­rufen. Ein empathischer Zugang könne daher Barrieren abbauen und den Dialog fördern.

 

Die Projekte zeigen exemplarisch, dass die Vermittlung kolonialer Vergangenheit eines multiper­spektivischen, inter- oder transdisziplinären Ansatzes bedarf, der die zahlreichen Herausforderun­gen adressiert. Gemeinsam ist ihnen die Auseinandersetzung mit Gewalt, Macht und Leerstellen in den Quellenbeständen und, soweit möglich, die Inklusion von Perspektiven aus dem globalen Süden, um einen Teil der Lücken zu schliessen und eurozentrischer Deutungsmacht etwas entgegenzuset­zen. Zentrale Entscheide betreffen die Inhaltsauswahl, Kontextualisierung, Mitwirkung und ‹drama­turgisch› professionelle Inszenierung. Die Projekte illustrieren die komplexe Balance zwischen Dar­stellung, Sensibilität, Machtverhältnissen und Einbindung sowie öffentlicher Wirkung bei der Aufar­beitung kolonialer Geschichte. Sorgfältig kuratierte Vermittlungsprojekte bieten Besuchenden die Möglichkeit, bestehende Annahmen mit einer im kolonialen Diskurs unterdrückten Perspektive zu kontrastieren und die Sensibilität für koloniale Realität, Kontinuität und Überlieferung zu schärfen.

 


Anmerkungen
1 Ligtenberg, Monique; Schär, Bernhard C.: Trennendes und Verbindendes. Kolonialgeschichte für eine gerechte Zukunft, in: Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, Zürich 2024, S. 49-62, hier S. 57.
2 Vgl. Martin Rempe, Ausstellungsrezension zu: Die Schweiz und der Kolonialismus, 13.09.2024 - 19.01.2025 Zürich, in: H-Soz-Kult, 09.11.2024, <https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-134353>.
3 Vgl. Agnes Gehbald, Ausstellungsrezension zu: Naming Natures – Natural History and Colonial Legacy, 15.12.2024 - 18.08.2025 Neuchâtel, in: H-Soz-Kult, 21.06.2025, <https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-154874>.


 

Panelübersicht

Marina Amstad, Marilyn Umurungi: Ausstellung des Schweizerischen Nationalmuseums: «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum Zürich

Tomás Bartoletti: Behind Scientific Names: Decolonial Practices in Natural History Exhibitions

Simone Rees: Spuren freilegen: Digitale Vermittlung und die Aushandlung kolonialer Regionalgeschichte

Monique Ligtenberg, Philipp Krauer: Wer macht was für wen sichtbar? – Public History in Form von Stadtrundgängen in Zürich

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Evènement
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organisé par
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Date de l'événement
-
Lieu
Luzern
Langue
Allemand
Report type
Conference