Verantwortung: Marina Amstad / Monique Ligtenberg / Marilyn Umurungi
Referierende: Marina Amstad / Marilyn Umurungi / Tomás Bartoletti / Simone Rees / Monique Ligtenberg / Philipp Krauer
‹Die Schweiz› war «lediglich an einer [Dimension des Kolonialismus] nie direkt beteiligt – an der staatlich-politischen. Alle übrigen Dimensionen […] hat sie mitgestaltet und wurde von diesen selbst nachhaltig geformt.»1 Das Bewusstsein für die ‹Schweizer› Kolonialbeteiligung wird durch eine steigende Zahl von Publikationen, Ausstellungen und Public-History-Projekten sichtbar, die Konturen der kolonialen Vergangenheit treten immer deutlicher hervor. Delegierte von vier Public-History-Projekten in den Formaten Ausstellung, Online-Vermittlung und Stadtführung diskutierten über ihre Vermittlungsarbeit und loteten Potenziale und Grenzen der Geschichtsvermittlung in der öffentlichen Sphäre aus.
MARINA AMSTAD und MARILYN UMURUNGI (Zürich) beleuchteten Konzept und Herausforderungen der Ausstellung «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum in Zürich (13.09.2024 – 19.01.2025).2 Sie gingen insbesondere auf übergeordnete Fragen ein, die in den elf Ausstellungsbereichen verhandelt wurden. Der Schwierigkeit etwa, die überwiegend gewaltvolle Geschichte adäquat zu erzählen, wurde mit der didaktischen Veranschaulichung und Kontextualisierung der Motive jeden Ausstellungsbereichs begegnet. Um koloniale Nachwirkungen darzustellen, wurden Themen wie Neokolonialismus, wirtschaftliche Kontinuitäten, Rassismus oder Lebensrealitäten von Nachfahren in fast jedem Ausstellungsbereich behandelt. Und es kamen Expertinnen zu Wort, ebenso wie zeitgenössische Kunstschaffende. Die Ausstellung lenkte öfter den Fokus weg von der Perspektive dominierender Kolonialmächte: Hierfür wurden etwa Biografien ‹ausserhalb der Scheinwerfer›, aktive Widerstandshandlungen gegen Versklavung und Zwangsarbeit sowie Formen des passiven Widerstands wie der geheime, selbst initiierte Schwangerschaftsabbruch präsentiert. Die Ausstellung abschliessend thematisierten Expertinnen und Experten in einem virtuellen Debattenraum blinde Flecken in Forschung und Gesellschaft sowie koloniale Kontinuitäten.
TOMÁS BARTOLETTI (Zürich) präsentierte «Naming Natures – Natural History and Colonial Legacy», eine Ausstellung im Naturhistorischen Museum Neuchâtel (15.12.2024 – 18.08.2025).3 Sie behandelte die konfliktbehaftete naturhistorische Sammlungs- und Forschungspraxis im kolonialen Kontext, hinterfragte Rolle und Motive kolonialer Forscher bei der Schaffung wissenschaftlichen Wissens und deckte die Inszenierung überseeischer Exponate sowie der Forschenden als koloniale Machtausübung auf. Mit wissenschaftlichen, historischen und museografischen Ansätzen wurde etwa den Fragen nachgegangen, wie koloniale Sammlungen heute zeitgemäss, verantwortungsvoll und kontextuell gezeigt werden können oder welche Verantwortung Museen gegenüber betroffenen Gemeinschaften zukommt. Gezeigt wurden Archivmaterial, im kolonialen Kontext angeeignete Objekte aus der hauseigenen Sammlung sowie Werke zeitgenössischer lateinamerikanischer Kunstschaffender.
In der Ausstellung wurden Aneignung und Benennung der ‹Sammlungsgegenstände› dekonstruiert. Taxonomien und Nomenklaturen, die sich als wissenschaftlich-sachlich und objektiv präsentieren, drücken vielmehr oft Werte, rassistische Zuschreibungen und Interessen kolonialer Herrschaften oder Forschender aus. Mit den Werken zeitgenössischer Kunstschaffender, vor allem aus Peru, bot die Ausstellung einen dialektischen Gegenentwurf zum kolonialen Deutungsrahmen. Die Kunst griff ursprüngliche Bedeutungen gezeigter Objekte auf und stellte sie wieder in den Kontext der Ursprungskultur, aus der sie entrissen worden waren.
SIMONE REES (Fribourg) stellte das digitale, regionalgeschichtliche Projekt «colonial local» vor. Die spezifischen kolonialen Verflechtungen des ländlich geprägten, katholischen Fribourg werden durch diese digitale Plattform offengelegt. Die Website richtet sich an ein breites Publikum, besonders jüngere Besuchende, und kuratiert Inhalte, die auch für den Schulunterricht geeignet sind. Perspektivisch werden Lernmedien in Verbindung mit der Website entwickelt, und das Projekt steuert für die Rundgänge der Stadt Fribourg ein Kapitel zur Kolonialgeschichte bei, wie Rees ausführte.
«colonial local» bietet ausserdem einen Blog und ein Glossar. Im Umgang mit gewaltvoller Sprache und Bildern, die der Thematik inhärent sind, sei die potenziell dauerhafte Verfügbarkeit im Netz eine Herausforderung. So wurde bewusst auf die Reproduktion kolonialer Bilder und Sprache verzichtet. Stattdessen illustrieren abstrakte Collagen die jeweiligen Themen und es wird eine sensible Sprache genutzt. Durch die Arbeit an der Website konnten auch neue Quellen zur Fribourger Kolonialgeschichte erschlossen werden.
MONIQUE LIGTENBERG und PHILIPP KRAUER (Zürich) stellten den Verein «ZH Kolonial» vor, der Beiträge zur Kolonialgeschichte von Zürcherinnen und Zürchern oder der Stadt Zürich sammelt und einem breiten Publikum vermittelt. «ZH Kolonial» bietet verschiedene Formate, etwa Texte und professionell eingelesene Audios auf der Website, physische Stadtrundgänge sowie einen Instagram-Kanal. Der Verein stellt einen redaktionellen Prozess bereit, über den neue Beiträge zur Zürcher Kolonialgeschichte auch von Externen eingebracht werden können.
Dank einer grossen Nachfrage nach Stadtrundgängen würden in Zusammenarbeit mit der Anny-Klawa-Morf-Stiftung weitere Guides ausgebildet, so die Referierenden. Ausserdem würden unter Leitung der Stiftung kolonialgeschichtliche Rundgänge nach diesem Vorbild für andere Städte entwickelt.
Im Anschluss diskutierten die Referierenden einige übergreifende Fragen. Zunächst ging es um die Herausforderung, Gewalt und Rassismus zu vermitteln, ohne diese zu reproduzieren. Die Vermittlung kolonialer Vergangenheit und ihrer Nachwirkungen erfordert – resümierend aus den Ausführungen der Referierenden – ethische und didaktische Entscheidungen: Welcher Inhalt wird vermittelt, wie wird er kontextualisiert und problematisiert, zeigt man koloniale Gewalt offen oder verdeckt oder spart man sie (ganz) aus? Gewalt, in all ihren vielfältigen Formen, wirkt auf Individuen und Gemeinschaften und über die Zeit fort. So wies Marilyn Umurungi darauf hin, dass Kuratorien nicht bestimmen können, was andere als rassistisch oder gewaltvoll empfinden. Im Landesmuseum habe man daher runde Tische organisiert und Stakeholder aus dem Kreis Betroffener einbezogen. Tomás Bartoletti wies auf die in Neuchâtel umgesetzte Abdeckung zahlreicher Exponate hin, die Besuchenden eine «performative Handlung des Sichtbarmachens» ermögliche, eine reflektierte Gewaltdarstellung adressiere und eine «Gelegenheit zum selektiven Sehen» biete. Kurationsentscheide hängen ausserdem vom Format des Vermittlungsangebots ab, wie Simone Rees verdeutlichte. Und Monique Ligtenberg führte aus, dass Ausstellungen - mehr als Stadtrundgänge - bewusste Entscheidungen erforderten, was und wie etwas gezeigt wird.
Wer vermittelt Kolonialgeschichte und wer hat (k)eine Stimme? Wie kann man transnational forschen, ausstellen, vermitteln? Die Projekte gehen diese Herausforderungen unterschiedlich an, doch alle verfolgen einen multiperspektivischen, inter- oder transdisziplinären Ansatz: Neben breit aufgestellten Kuratorien zeigte sich eine fachübergreifende Beteiligung bei der Konzeption als wesentlich, etwa durch Einbindung von Forschenden verschiedener Disziplinen, Kunstschaffender, Expertinnen für visuelle Kommunikation oder Szenographie und Webdesigner. Wichtig war allen Projekten der Einbezug von Stimmen aus dem globalen Süden: Nachfahren kolonisierter Gesellschaften, Künstlerinnen aus ehemaligen Kolonialgebieten oder heute von Rassismus Betroffene – um ein breit abgestütztes und reflektiertes Vermittlungskonzept zu gestalten, Deutungshoheit zu verteilen und Multiperspektivität zu realisieren. Die Einbindung verschiedener Perspektiven und die transnationale Vermittlung seien vielfach herausfordernd, führte Marilyn Umurungi aus. Der Beteiligung internationaler Akteure stünden Hürden im Weg, etwa bei der Finanzierung, was Machtasymmetrien fortsetze. Das birgt das Risiko, Geschichte weiterhin mit der Stimme der Kolonisatoren zu erzählen. Demgegenüber können mittels Kunst neue Erzählweisen und Sensibilitäten im Umgang mit kolonialen Quellen erschlossen werden, so Tomás Bartoletti - auch wenn Transdisziplinarität die Kommunikation im Projekt generell anspruchsvoller mache. Die Kunst sei zudem, ergänzte Marina Amstad, ein pragmatischer, kostengünstiger Weg, Perspektiven aus dem globalen Süden in den Diskurs aufzunehmen.
Thematisiert wurden auch die Lücken im Archiv, die für die Kolonialgeschichte eine besonders grosse Herausforderung darstellen: Die Quellenlage ist durch eine eurozentrische Perspektive geprägt, da die Sichtweisen der Kolonisierten häufig gar nicht, nur lückenhaft oder durch ‹die Brille› der Kolonisatoren überliefert sind. Zentral sei, so Simone Rees, das Publikum mit diesen Lücken zu «konfrontieren», also Leerstellen aufzuzeigen, die Relativität historischen Wissens zu erläutern und den Hintergrund dieser Lücken transparent zu machen – ebenso wie diesbezügliche Entscheide im Vermittlungsprojekt.
Schliesslich diskutierte das Panel Herausforderungen im Umgang mit Kritik. Vorstellungen in der Öffentlichkeit und die Positionierung von Medien zu kolonialen Themen könnten Kuratierenden das Narrativ entreissen und sie in die Statistenrolle drängen, konstatierte Philipp Krauer. Bezogen auf kritische Besuchende empfahl Simone Rees, sich in diese hineinzuversetzen. Die Dekonstruktion kolonialer Erzählungen könne Kindheits- oder Familienerfahrungen berühren und Ablehnung hervorrufen. Ein empathischer Zugang könne daher Barrieren abbauen und den Dialog fördern.
Die Projekte zeigen exemplarisch, dass die Vermittlung kolonialer Vergangenheit eines multiperspektivischen, inter- oder transdisziplinären Ansatzes bedarf, der die zahlreichen Herausforderungen adressiert. Gemeinsam ist ihnen die Auseinandersetzung mit Gewalt, Macht und Leerstellen in den Quellenbeständen und, soweit möglich, die Inklusion von Perspektiven aus dem globalen Süden, um einen Teil der Lücken zu schliessen und eurozentrischer Deutungsmacht etwas entgegenzusetzen. Zentrale Entscheide betreffen die Inhaltsauswahl, Kontextualisierung, Mitwirkung und ‹dramaturgisch› professionelle Inszenierung. Die Projekte illustrieren die komplexe Balance zwischen Darstellung, Sensibilität, Machtverhältnissen und Einbindung sowie öffentlicher Wirkung bei der Aufarbeitung kolonialer Geschichte. Sorgfältig kuratierte Vermittlungsprojekte bieten Besuchenden die Möglichkeit, bestehende Annahmen mit einer im kolonialen Diskurs unterdrückten Perspektive zu kontrastieren und die Sensibilität für koloniale Realität, Kontinuität und Überlieferung zu schärfen.
Anmerkungen
1 Ligtenberg, Monique; Schär, Bernhard C.: Trennendes und Verbindendes. Kolonialgeschichte für eine gerechte Zukunft, in: Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, Zürich 2024, S. 49-62, hier S. 57.
2 Vgl. Martin Rempe, Ausstellungsrezension zu: Die Schweiz und der Kolonialismus, 13.09.2024 - 19.01.2025 Zürich, in: H-Soz-Kult, 09.11.2024, <https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-134353>.
3 Vgl. Agnes Gehbald, Ausstellungsrezension zu: Naming Natures – Natural History and Colonial Legacy, 15.12.2024 - 18.08.2025 Neuchâtel, in: H-Soz-Kult, 21.06.2025, <https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-154874>.
Panelübersicht
Marina Amstad, Marilyn Umurungi: Ausstellung des Schweizerischen Nationalmuseums: «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum Zürich
Tomás Bartoletti: Behind Scientific Names: Decolonial Practices in Natural History Exhibitions
Simone Rees: Spuren freilegen: Digitale Vermittlung und die Aushandlung kolonialer Regionalgeschichte
Monique Ligtenberg, Philipp Krauer: Wer macht was für wen sichtbar? – Public History in Form von Stadtrundgängen in Zürich