Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christof
Dejung
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2020/2021
Abstract
Zwischen 1815 und 1914 wanderten laut statistischen Schätzungen über eine halbe Million Schweizerinnen und Schweizer aus. Mehr als 70 % davon fanden in Amerika eine neue Heimat. Während sich Auswanderungswillige zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eigenständig auf den Weg in die grossen Hafenstädte Europas begaben, entstand im Verlauf des Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Auswanderung ein neuer Geschäftszweig. Agenten und später ganze Agenturen übernahmen die Vermittlung und den Verkauf von Reisetickets bereits im Ausreiseland.
Die erste offizielle Agentur mit Sitz in der Schweiz wurde 1834 in Basel gegründet. Während knapp fünf Jahrzehnten lag die Aufsicht über deren Geschäftsbetrieb in der Verantwortung der Kantone. Aufgrund der verschiedenen Gesetzesgrundlagen in den einzelnen Kantonen war es schwer, die Agenturen für allfällige Vergehen zu belangen. Erst in den 1870er Jahren, als die Lage allmählich ausser Kontrolle zu geraten drohte, sah sich der Bundesrat gezwungen, einzugreifen. 1880 trat das erste Bundesgesetz zur Kontrolle der Auswanderungsagenturen in Kraft.
Diese Masterarbeit untersucht die Arbeitsweise und Funktion der Schweizer Auswanderungsagenturen mit besonderem Fokus auf die Zeit nach dem Erlass des ersten Bundesgesetzes bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. In Folge des Bundesgesetzes betreffend den Geschäftsbetrieb der Auswanderungsagenturen von 1880 wurden im Untersuchungszeitraum über 215 Anträge an den Bundesrat protokolliert und zusammengefasst. Diese Anträge beziehen sich auf verschiedenste Verstösse gegen das Bundesgesetz. Die ausführlichen Protokolle bieten einen mit keinen anderen Quellen vergleichbaren Einblick in die Arbeit von Schweizer Auswanderungsagenturen. Obwohl es sich hier um in einem rechtlichen Kontext entstandene Quellen handelt, können aus ihnen zahlreiche allgemeine Informationen zur Arbeit der Agenturen herausgelesen werden. Bei der Aufarbeitung des Quellenmaterials wurde das Stichprobenverfahren angewandt. Im Zentrum der Untersuchung steht der Inhalt der einzelnen Protokolle, welcher analysiert, auf Gemeinsamkeiten untersucht und schlussendlich interpretiert wurde.
Das Bundesgesetz von 1880, welches 1888 revidiert wurde, schrieb den Agenturen genau vor, unter welchen Bedingungen und gegen welche Kaution sie ihr Geschäft betreiben durften. Besonders die Regelung zur Verwendung von Unteragenten sorgte für Konflikte zwischen den Agenturen und dem Gesetz. Aus mehreren Anträgen geht hervor, dass die Agenten beispielsweise in Gastwirtschaften oder auch an den Bahnhöfen Mittelsmänner zur Anwerbung von Auswandernden engagiert hatten, welche jedoch nicht als offizielle Unteragenten beim Bund gemeldet waren.
Beim Verkauf von Auswanderungsverträgen und Transporttickets handelte es sich um ein von Konkurrenz gezeichnetes Geschäft. Die untersuchten Anträge zeigen, dass es regelmässig auch zu Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Agenturen kam. Um sich einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen, schreckten die Agenturen auch nicht davor zurück, gegeneinander Anzeige zu erstatten. Die Leidtragenden in diesen Situationen waren meistens die Auswandernden. Auch wenn die Perspektive der Auswandernden in den Quellen unterrepräsentiert ist, boten einige Anträge auch einen Einblick in deren Vorgehen bei der Suche nach einer Agentur. So wird in mehreren Fällen geschildert, dass es nicht immer die Agenturen waren, die das Auswanderungsgesetz umgehen wollten. Es wird beispielsweise beschrieben, wie Auswanderungswillige ihre Papiere fälschten und oder falsche Aussagen bezüglich ihres Gesundheitszustands oder ihren familiären Umständen machten, um von den Agenturen nach Amerika befördert zu werden.
Die Agenturen hatten nicht nur das schweizerische Bundesgesetz zu beachten, sondern auch die Einreisebestimmungen der Zielländer sowie die Gesetzeslage der Heimatländer ihrer ausländischen Kundschaft. Aus den Schilderungen in den Anträgen wird deutlich, dass gute Beziehungen ins Ausland, sei es zu anderen Agenturen, zu den Reedereien in den Hafenstädten wie Le Havre oder den Ankunftsorten wie New York, eine Grundvoraussetzung für den erfolgreichen Betrieb einer Auswanderungsagentur waren.
Die Untersuchung unterstreicht, dass die Arbeit der Agenturen aus ständigen Grenzüberschreitungen bestand. Sei es im wörtlichen Sinne oder in der Tatsache, dass diese zum Zwecke des Geschäftes öfters das Gesetz missachteten. Als Vermittler zwischen der Schweiz und Destinationen in der Ferne können die Schweizer Auswanderungsagenten als aktive Akteure der Migrationsgeschichte bezeichnet werden. Mit Hilfe der Agenturen wanderten über mehrere Jahrzehnte abertausende Schweizerinnen und Schweizer nach Übersee aus. Diese wiederum verteilten sich in den verschiedensten Teilen der Welt und hinterliessen dort ihre Spuren. Damit trugen die Agenturen durch ihre Arbeit zur globalen Präsenz der Schweiz bei.