Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2020/2021
Abstract
Der Untersuchungsgegenstand der erarbeiteten Masterarbeit stellen soziale Beziehungen von in die Schweiz geflüchteten Schutzsuchenden im Zeitraum zwischen 1933 – 1945 dar. Während diese in anderen Forschungsarbeiten oftmals lediglich als Nebenprodukt einer spezifischen Fragestellung aufgearbeitet werden, stehen sie im vorliegenden Projekt bewusst im Vordergrund der Untersuchungen. Dabei sollen einerseits die mit der minutiös geplanten Flucht einhergehenden Veränderungen im sozialen Umfeld der schutzsuchenden Personen dargestellt werden. Andererseits sollen die sozialen Interaktionen in der neuen Exilheimat als Strategien zur Bewältigung mannigfaltiger Herausforderungen beschrieben werden. Primär wird der Umgang mit alltäglichen Problemen, der Wunsch nach sozialer Stabilität und die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft thematisiert.
Da brisante Briefinhalte von Flüchtlingen meist von den Zensurstellen studiert wurden, wurden in den meisten Briefkorrespondenzen allzu persönliche Erfahrungen und Erlebnisse ausgeklammert, sie eignen sich daher als Quellenbasis nur bedingt. Deshalb stellt das vorliegende Projekt konsequent Tagebuchquellen als Quellengrundlage in den Vordergrund. Obwohl sich die Arbeit auch editierten Tagebuchquellen bedient, versucht sie, wann immer möglich, Originaltagebücher in die Argumente miteinzubeziehen. Da die Tagebücher soziale Interaktionen oftmals lediglich oberflächlich beschreiben und Personennamen unterschlagen, sind sie für zielführende Aussagen nicht selten wertlos. Da ebendiese Namen jedoch weiterführende Personenrecherchen ermöglichen, berücksichtigt die Auswertung der Quellenmaterialien lediglich namentliche erwähnte Personen.
Aus dem Quellenstudium lässt sich festhalten, dass der meist längerfristig gereifte Fluchtplan mit einer radikalen Veränderung des persönlichen sozialen Umfeldes einher ging. Da viele Flüchtlinge aus Sicherheitsgründen die Grenze allein zu passieren versuchten, mussten Angehörige zurückgelassen und soziale Beziehungen aufgebrochen werden. Bereits die Fluchtvorbereitungen wirkten sich spürbar auf die zwischenmenschlichen Kontakte der Flüchtenden aus.
Um Angehörige nicht unnötig zu beunruhigen und um keine undichten Stellen in der Planung des Fluchtvorhabens zu generieren, zogen sich Schutzsuchende häufig aus ihrem sozialen Umfeld zurück und verschwiegen gar engsten Bezugspersonen Details zum genauen Fluchtplan. Viele Verwandte oder Bekannte brachten, um den Tagebuchautorinnen und -autoren eine sorgenfreiere Zukunft zu ermöglichen, grosse Opfer. Beispielsweise kümmerten sie sich in der Heimat um schwächere Familienmitglieder oder beteiligten sich finanziell an der kostspieligen Flucht. Die daraus resultierenden Schuldgefühle erschwerten den Neuaufbau sozialer Strukturen oftmals stark.
Da abgewiesene Flüchtlinge nicht ohne weiteres in ihre Heimatländer abgeschoben werden konnten, wurden sie in Lagern interniert. Die überfüllten Internierungslager machten soziale Interaktionen unumgänglich. Häufig beklagen Flüchtlinge in ihren Tagebüchern daher in erster Linie nicht die prekären hygienischen Situationen in den Lagern, sondern die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten. Um das Lagerleben meistern zu können, versuchten sich die meisten Häftlinge in soziale Gruppen zu integrieren, welche häufig auf der Basis der gemeinsamen Sprache, Nationalität oder eines gemeinsamen Berufes entstanden. Als wesentlich zentraler für den Aufbau von Sozialbeziehungen erwiesen sich jedoch gemeinsame Lagererlebnisse.
Der Kampf um Privilegien zwischen verschiedenen Lagergruppen oder Einzelhäftlingen entwickelte häufig Lagerdynamiken, welchen das Lagerpersonal mit Häftlingsverlegungen in andere Lager begegnete. Dieser Aufbruch sozialer Strukturen schwächte das Lagergefüge und wirkte unerwünschten Dynamiken oder Lageraufständen entgegen, da die Häftlinge erst wieder neue soziale Beziehungen aufbauen mussten.
Schliesslich erforderte auch der Aufbau einer Zukunftsperspektive soziale Kontakte. So setztebeispielsweise die Immatrikulation an einer Hochschule einen zivilen Wohnsitz bei einer Familie voraus, den die angehenden Studentinnen und Studenten persönlich organisieren mussten. Die Flucht in die Schweiz stellte also für sämtliche Tagebuchautorinnen und -autoren einen radikalen Umbau des Soziallebens dar. Während das Auseinanderbrechen von Beziehungen oftmals am Anfang eines erfolgreichen Fluchtplanes stand, war der Aufbau neuer Strukturen im neuen Lebensabschnitt in mannigfaltiger Hinsicht unabdingbar.