Die Bedeutung von Johann Wilhelm Fortunat Coaz (1822 – 1918) für die wissenschaftliche Erforschung von Lawinen und den Lawinenschutz

AutorIn Name
Michael
Flütsch
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2021/2022
Abstract
Die Wurzeln des modernen Schweizer Lawinenschutzes reichen zurück bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Masterarbeit beschäftigt sich in Form einer wissenschaftlichen Biografie mit dem Wirken von Johann Wilhelm Fortunat Coaz (1822–1918) rund um die Erforschung von Lawinen und die Entwicklung entsprechender aktiver Schutzmassnahmen. Coaz absolvierte nach seiner Schulzeit in Chur von 1841–1843 die Königlich-SächsischeForstakademieinTharandtund war anschliessend als Gebirgstopograf an den Vermessungsarbeiten der Dufourkarte beteiligt. Daneben war er als Alpinist Erstbesteiger verschiedener Gipfel in den Schweizer Alpen. Bei dieser Tätigkeit kam er zum ersten Mal nachweislich in Kontakt mit der Lawinenthematik. Die historisch-hermeneutisch ausgerichtete Untersuchung zeichnet nach, wie es Coaz zuerst als Bündner Forstinspektor und später als eidgenössischer Oberforstinspektor verstand, im Rahmen seines Engagements zur Einführung einer modernen Forstlegislation auf kantonaler und nationaler Ebene den Lawinenschutz gesetzlich zu verankern. Als zentrale Quelle dienten Coaz’ zahlreiche publizierte Werke und Artikel, welche sich mit der Thematik rund um Lawinenforschung und -schutz befassen. Zusätzlich wurden seine Forstlichen Tagebücher sowie das private Tagebuch aus dem Staatsarchiv Graubünden digitalisiert und mittels eines eigens trainierten Handwritten-Text-Recognition-Modells transkribiert. Ausserdem wurden weitere Archivquellen berücksichtigt. Der Hauptteil der Untersuchung beschäftigt sich mit dem auf den rechtlichen Rahmenbedingungen aufbauenden praktischen Wirken von Coaz im frühen Schweizer Lawinenverbau. Dabei wird anhand verschiedener Fallbeispiele nachvollzogen, wie Coaz nach der gemeinhin als Pionierprojekt bekannten Verbauung von Motta d’Alp in Tschlin im Unterengadin im Verlauf der 1870er Jahre zunehmend praktische Erfahrungen sammeln konnte. Dieses Wissen bündelte er in seinem 1881 erschienenen und bis heute als Standardwerk bekannten Buch Die Lauinen der Schweizeralpen. Ausserdem lieferte Coaz darin eine Zusammenstellung von naturwissenschaftlichen Daten und Beobachtungen zum besseren Verständnis des Phänomens Lawine. Die Masterarbeit analysiert das Werk inhaltlich und illustriert die darin von Coaz aufgestellten Normen zur Erstellung von Lawinenverbauungen und zur Umsetzung von Aufforstungen. Dies geschieht anhand der beim Bau der Albulabahn 1898–1904 realisierten Verbauung Muot bei Bergün im Kanton Graubünden. Anhand dieses Fallbeispiels werden auch die finanziellen und rechtlichen Konsequenzen einer solchen frühen aktiven Lawinenverbauung thematisiert. Die Arbeit führt für den Prozess der Planung und Durchführung einer Lawinenverbauung nach diesen Normen den Begriff des „Coaz’schen Lawinenschutzkonzepts“ ein und liefert zusätzlich eine tabellarische Darstellung, wie solche Projekte in diesen frühen Jahren des Schweizer Lawinenschutzes idealtypisch abliefen. Coaz legte nach der Publikation seines ersten Werkes 1881 Wert darauf, dass seine Normen durch die zuständigen örtlichen Akteure exakt eingehalten wurden. Um zu zeigen, wie nachdrücklich er seine Positionen nötigenfalls vertrat, dient ein Fallbeispiel, in welchem er in einem Artikel der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen seinen jüngeren Fachkollegen Fritz Marti kritisierte. Dieser hatte 1882 in einem eigenen Artikel über Ideen zum Lawinenverbau Coaz’ gerade erst aufgestellte Normen implizit hinterfragt. Coaz achtete bei der Planung einer Verbauung stets darauf, eine Kosten-Nutzen-Analyse anzustellen und bemühte sich, die lokale Bevölkerung vom Nutzen einer Verbauung zu überzeugen. Dass dieses Vorgehen nicht immer zum Erfolg führte, zeigt das Fallbeispiel St. Antönien. Dort verhinderten wirtschaftliche Bedenken lokaler Akteure und fehlendes Interesse der kantonalen und eidgenössischen Instanzen an Schutzmassnahmen die Verbauung des stark lawinengefährdeten Tales nach dem Coaz’schen Lawinenschutzkonzept. Darüber hinaus beschäftigt sich die Arbeit mit Coaz‘ Bestrebungen, möglichst umfangreiche Datensammlungen zu Lawinenphänomenen anzustellen, um diese anschliessend publizieren zu können. Bereits ab 1878 verfolgte er das Ziel, alle Lawinenzüge der Schweiz anhand genauer Parameter zu erfassen und in einer „Schweizerischen Lawinenkarte“ zu verzeichnen. Dass er als eidgenössischer Oberforstinspektor auf das hierarchisch organisierte, ihm unterstellte Forstpersonal zurückgreifen konnte, machte dieses Vorhaben möglich. Wie die Untersuchungen nachzeichnen, gestaltete sich dieses Bestreben allerdings schwierig, da sowohl die eidgenössischen wie auch die kantonalen Forstexperten an chronischer Überlastung durch ihre zahlreichen Aufgaben litten. Ein Schlaglicht auf den schweren Lawinenwinter von 1887/88 zeigt auf, wie dieser die Entwicklung des Schweizer Lawinenschutzes beeinflusste, indem sich die erstellten Verbauungen weitestgehend bewährten und Coaz von den kantonalen Forstämtern detaillierte Dokumentationen der Lawinenniedergänge einforderte. Erst 1910 waren die Arbeiten an der Datenaufnahme abgeschlossen und es erfolgte die Publikation des Buches Statistik und Verbau der Lawinen in den Schweizeralpen, das neben aktualisierten Handlungsanweisungen und Praxisberichten auch die besagte Lawinenkarte und das zugehörige Verzeichnis beinhaltete. Die Originalkarte wurde unter anderem an Landesausstellungen gezeigt, was demonstriert, wie zentral es für Coaz war, das Thema Lawinenforschung und -verbau der Schweizer Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ein gesondertes Kapitel der Arbeit widmet sich dem Lawinenschutz unter Coaz in seiner finanziellen Dimension, indem sein Verzeichnis aller 269 bis Ende 1909 erstellten Verbauungen in aussagekräftigen Diagrammen dargestellt wird und diese anschliessend eine konzise Besprechung und Einordnung erfahren. Abschliessend fokussieren sich die Betrachtungen auf den transnationalen Austausch von Lawinenwissen, indem verschiedene ausländische Kontakte von Coaz besprochen werden. Dabei wird skizziert, wie gerade im Bereich von baulichen Schutzmassnahmen ein bilateraler Erfahrungsaustausch stattfand, welcher die Lawinenverbauungspraxis in den verschiedenen beteiligten Staaten jeweils beeinflusste und veränderte. Gleichzeitig erlaubten diese transnationalen Netzwerke, auf informeller Ebene Blockaden auf institutionellen Kanälen zu umgehen.

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