CfP: Der bittere Geschmack des Archivs (traverse, 1/2023)

1. September 2021 - 02:00
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Trotz des technologischen Fortschritts und einer beispiellosen Verbreitung historischer Daten ist festzustellen, dass sich der Zugang zu Archivbeständen, die als heikel eingestuft werden, kaum verbessert oder gar verschlechtert. So erfordert der Zugang zu staatlichen oder privaten Archiven zu Forschungszwecken im Vorfeld oft langwierige Verhandlungen, über die in der Publikation der Forschungsresultate wenig berichtet wird. Die Zeitschrift traverse widmet dieser Geduldsarbeit zur Erstellung eines Quellenkorpus ein eigenes Themenheft. Es soll die damit verbundenen methodischen und berufsethischen Fragen aufgreifen, die sich in der historischen Forschung stellen: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um Zugang zu Originaldokumenten zu erhalten? Wie viel Autonomie sind wir bereit aufzugeben, wenn wir einen Vertrag über Quellenzugang unterschreiben? Wie kann die Unabhängigkeit des Forschungsprozesses gewährleistet werden, wenn die Ergebnisse vor der Publikation einer externen Kontrolle unterliegen? Wie gewichten wir den Schutz der Privatsphäre und der Persönlichkeit gegenüber dem Forschungsbedarf und dem Grundsatz der Transparenz öffentlicher Angelegenheiten? Auch breitere Fragestellungen sollen Platz finden: Welche Schwierigkeiten ergaben sich in der Vergangenheit beim Zugang zu bestimmten Korpora? Welche neuen Probleme stellen sich? Was bedeutet dies für eine Bestandsaufnahme des Verhältnisses zum Archiv in der Schweiz? Welche Erkenntnisse liefert eine vergleichende Betrachtung? Im staatlichen Bereich gibt es für die Einsichtnahme in Archiven seit langem administrative Verfahren zur Erteilung von Ausnahmebewilligungen, abhängig von der Dauer der Schutzfrist und dem Grad der Vertraulichkeit der Dokumente. Bei privaten Archiven juristischer oder natürlicher Personen hängt der Zugang hingegen ausschliesslich von der Bereitschaft der Archivinhaber ab, ihre Bestände zu öffnen, oftmals verbunden mit dem Wunsch, dass ihre Geschichte in einer bestimmten Art und Weise aufgearbeitet wird. Insbesondere bezüglich Firmenarchiven ist der Zugang kompliziert, da gegensätzliche Erwartungshaltungen bestehen: Der umfassende Erkenntnisanspruch der Forschung steht oft im Widerspruch zur Absicht des Unternehmens, nur wenig von der Vergangenheit preiszugeben und vor allem die eigene Erfolgsgeschichte zwecks Publicity und historischer Legitimation hervorzuheben. Angesichts solcher Zugangsbedingungen stellt sich die Frage nach der Selbstzensur: Forschende, die an monate- oder jahrelangen Projekte arbeiten, können den Zugang zu ihrem Korpus verlieren, wenn sie einen Artikel veröffentlichen, der dem Unternehmen oder Verband als Archivinhaber missfällt. Können sie sich eine solche Situation leisten? Und wie frei sind Historikerinnen und Historiker in ihren Äusserungen, wenn sie Auftragsforschung betreiben? Eine generelle Frage, die sich im ganzen Bereich der Public History und darüber hinaus in der historischen Forschung stellt, sobald die Fragestellung von aussen definiert wird. Auch soll geklärt werden, ob in der Schweiz wie in anderen Ländern ein Trend in Richtung Zugangsbeschränkung zu beobachten ist, und gegebenenfalls welche Archivbestände speziell davon betroffen sind. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Hürden beim Zugang zu Archiven sogar Forschungsschwerpunkte verschieben können: Nicht zuletzt aufgrund der administrativen Verkürzung von Fristen zur Einreichung von Abschlussarbeiten und Dissertationen. Immer mehr Vorgaben führen dazu, dass die Zugänglichkeit von Primärquellen und die Bedingungen der Einsichtnahme die Frage nach der wissenschaftlichen Bedeutung des Forschungsgegenstandes tendenziell überlagern. Solche Hindernisse, die der Forschung in den Weg gelegt werden, schaden der Wissenschaft und führen zu Frustration und Abschreckung. Und zwar unabhängig davon, ob auf besonders heikle Bestände verwiesen wird, oder ob betriebswirtschaftliche Gründe (Kostenreduktion, Zeitaufwand und Personalqualifikation) in der Verwaltung staatlicher Archive angeführt werden. Dadurch wird die Geschichtsforschung unmerklich von bestimmten Forschungsthemen oder bestimmten Archiven ferngehalten. Diese lagern übrigens ihre Dienstleistungen vermehrt aus, so dass mittelfristig eine schleichende Privatisierung der Dokumentenbestände zu befürchten ist. Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit Krisen, die sich aus juristischen, politischen oder moralischen Aspekten von umstrittenen Teilen der Schweizer Geschichte (Versklavung, Verhältnis zu Nazideutschland, administrative Versorgungen, Bodenverschmutzung) ergeben. Zwar führt die Bewältigung dieser Krisen teils zu unerwarteten Archivöffnungen, wie im Fall von diversen Expertenkommissionen. Gleichwohl sind die Bestände jedoch oftmals den Mitgliedern dieser Kommissionen oder deren wissenschaftlichen Mitarbeitenden vorbehalten, die dem Berufsgeheimnis unterstehen. Problematisch ist diese Praxis auch im Hinblick auf die Vorstellung von Peer Reviews: Ist die Krise einmal überwunden, so schliessen sich die Archive meist wieder. Selbst bislang öffentlich zugängliche Bestände können dieses Schicksal erleiden. In anderen Fällen geschah es, dass die publizierten Expertenarbeiten dazu dienten, weitere Forschungsanfragen abzuwehren, mit der Begründung, das Thema sei historisch bereits von autorisierter Stelle erschöpfend behandelt worden. Ein weiteres Thema, das von Interesse ist, wäre beispielsweise die versehentliche oder absichtliche, heimliche oder offene Zerstörung von Archivbeständen. So kam 2018 ans Licht, dass die Schaffhauser Kantonalbank ihr Archiv (und damit 130 Jahre eines Aspekts der Regionalgeschichte) entsorgt hatte. Wie viele ähnliche Fälle gelangen gar nie an die Öffentlichkeit? Schliesslich ist die Digitalisierung von Dokumenten ein wichtiges Thema. Digitale Archive sind natürlich wünschenswert und notwendig, insbesondere zu konservatorischen Zwecken. Der Trend darf aber nicht zur zwangsweisen Dematerialisierung von Forschungsstätten dienen, denn diese sind auch Orte der Begegnung und des wissenschaftlichen Austauschs. Völlig kontraproduktiv wäre eine Digitalisierung, die – wie bereits teilweise geschehen – Quellen einfach online schaltet oder den Forschenden zur Verfügung stellt, obwohl sie aufgrund fehlender Inventare nur schwer identifizierbar oder aus ihrem dokumentarischen Kontext gerissen sind. Dadurch wird die Quelleninterpretation erschwert und unter Umständen die Provenienzforschung unterbunden, die ein grundlegender Bestandteil jeglicher seriösen Geschichtsforschung ist. Forschende, die in der Schweiz mit problematischen Zugangsbedingungen zu Archivbeständen konfrontiert wurden oder denen der Zugang ganz verwehrt wurde, laden wir ein, über ihre Schwierigkeiten zu berichten, sei es im Zusammenhang mit Verwaltungen, Firmen, Kirchen, Verbänden oder Privatpersonen. Beiträge von Archivarinnen und Archivaren oder von Leitungen von Dokumentationszentren sind ebenfalls sehr willkommen, beispielsweise über Probleme bei der Durchsetzung von Archivierungsverordnungen gegenüber Verwaltungen oder über möglichen Ressourcenmangel zur Bewahrung des Kulturerbes. Das Themenheft soll zudem zur Erarbeitung von «Best Practices» beitragen: Diese sollten grundsätzlich bei der Einsicht in Archivbestände gelten, die der Geheimhaltungspflicht (etwa dem Bankgeheimnis, Militärgeheimnis, medizinischen Berufsgeheimnis oder Geschäftsgeheimnis), dem Datenschutz oder der «Staatsräson» unterliegen. Beiträge Die Beiträge durchlaufen ein Double-Blind-Peer-Review und werden die Ausgabe 1/2023 der Zeitschrift traverse bilden. Interessierte werden gebeten, eine Zusammenfassung von rund 400 Wörtern mit Literaturangaben sowie einen kurzen Lebenslauf bis zum 1. September 2021 an folgende Personen zu senden: Alexandre Elsig (alexandre.elsig@epfl.ch), Malik Mazbouri (malik.mazbouri@unil.ch), Thibaud Giddey (thibaud.giddey@unil.ch).
Organised by
Alexandre Elsig, Thibaud Giddey, Malik Mazbouri

Veranstaltungsort

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1000 
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Kontakt

Alexandre Elsig

Event language(s)
French

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