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Die Geschichtswissenschaft belebt sich immer wieder durch Theorieangebote, Ansätze und Konzepte, die von aussen in sie hineingetragen werden. Aktuelle gesellschaftliche Anliegen verändern unseren Blick auf historische Untersuchungsgegenstände und erhellen alte blinde Flecken. In den letzten Jahrzehnten haben in der Neuzeit- und Zeitgeschichte intensive Debatten etwa um postkoloniale und intersektionale Perspektivierungen dazu geführt, das Fach nicht nur zu erweitern, sondern dieses vor allem auch im Hinblick auf seine üblichen Hauptakteure zu dezentrieren. So wird vermehrt auf die koloniale Geschichte der modernen Schweiz hingewiesen, und die Geschlechtergeschichte bezieht weitere Analysekategorien wie "race" und "class" und deren Auswirkungen auf Machtverhältnisse mit ein.
Während die Frühneuzeitforschung die Thematik der europäischen «Expansion» als kolonialer Prozess bearbeitet, ist die deutsch- und französischsprachige Mittelalterforschung bislang kaum auf die postkoloniale Herausforderung eingegangen. Hingegen haben sich in der englischsprachigen Mediävistik in den letzten zwei Jahrzehnten etwa die sogenannten Anglo-Saxon Studies (deren Bezeichnung selbst heftig umstritten ist), aber zunehmend auch die breitere mediävistische Literatur- und Kulturwissenschaft produktiv mit dem Theorietransfer postkolonialer Ansätze auseinandergesetzt. Es mag zunächst anachronistisch erscheinen, aktuelle postkoloniale Anliegen auch auf die Erforschung mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denkens und Handelns zu übertragen. Doch stimmt dieser erste Eindruck einer ungerechtfertigten Rückprojizieren von Anliegen? Lassen sich nicht über politische Anliegen hinaus epistemologische Gewinne für die Erforschung der Vormoderne erzielen? Wir schlagen zur Herangehensweise an diese Fragen eine breite und offene Verwendung des Begriffs «postkolonial» vor, der unterschiedliche Formen im Umgang mit den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Kolonialismus, Imperialismus sowie von auf Kontrolle und Ausbeutung abzielenden Gesellschaftsformen bezeichnet.
Für das vorliegende Heft subsumiert der Begriff des Postkolonialen in unserem Verständnis also nicht ein zeitliches «nach», sondern vielmehr die theoretischen Angebote, gesellschaftspolitischen Herausforderungen und die epistemologische Komplexitätsforderung, die aus den postcolonial studies an die Geschichtswissenschaft – und hier spezifisch die Vormoderne – herangetragen werden. Es geht uns in diesem Heft um eine Auseinandersetzung mit diesen Angeboten und Herausforderungen auf mehreren Ebenen: Erstens fragen wir nach der Motivation, sich als Vormodernehistoriker:in mit ihnen auseinanderzusetzen, nach dem Selbstbild/der Rolle der Historiker:in in der Gesellschaft. Zweitens interessiert uns der konkrete Einfluss der postcolonial studies auf die Forschung, den Theorietransfer, die Erschliessung neuer Perspektiven und die Veränderung in der Methodologie einzelner Forscher/innen und der Disziplin insgesamt. Und drittens kommt die Frage nach der Operationalisierung und didaktischen Vermittlung auf: wie und wo wird postkoloniale Theorie angewandt und gelehrt.
Der geplante Heftschwerpunkt wird als traverse-Ausgabe 2/2022 erscheinen. Die erste Version der Manuskripte erwarten wir bis zum 15. Juni 2021. Die Artikel sollten eine Maximallänge von 30‘000 Zeichen inkl. Leerzeichen und Abbildungen nicht überschreiten. Die Beiträge durchlaufen ein double blind peer review-Verfahren.
Wir laden Interessierte ein, bis spätestens 31. Januar 2021 ein abstract von ca. 400 Wörtern inkl. Literaturhinweisen und CV (kurz) zu senden an: Isabelle Schürch (isabelle.schuerch@hist.unibe.ch), Matthieu Gillabert (matthieu.gillabert@unifr.ch), Anja Rathmann-Lutz (anja.lutz@unibas.ch)
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traverse - Revue d’histoire
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