Expertise herausfordern – Partizipation erkämpfen. Gehörlosigkeit, Bildung und Beruf in der Deutschschweiz, 1980er und 1990er Jahre

AutorIn Name
Vera
Blaser
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Codirection
PD Dr. Sonja Matter
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2023/2024
Abstract

Noch bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts wurden gehörlose Menschen in der Schweiz – ebenso wie in anderen Ländern – von der Gesellschaft und von Fachpersonen der Gehörlosenarbeit als schwer behindert und nur bedingt in die hörende Mehrheitsgesellschaft integrierbar wahrgenommen. Im Kontrast dazu versteht sich heute eine Mehrheit der gehörlosen Personen als Mitglied einer gebärdensprachlich kommunizierenden kulturellen Minderheit: als ‹Betroffene› beteiligen sie sich an politischen Debatten und sind beruflich in der Gehörlosenarbeit tätig.

 

Die Dissertation setzt an dieser Diskrepanz an und fragt danach, welche Faktoren dazu beitrugen, dass sich ab den späten 1970er Jahren in der Deutschschweizer Gehörlosengemeinschaft Kritik an den etablierten institutionellen Machtstrukturen im Gehörlosenwesen zu formieren begann. Der Fokus liegt auf der Frage, wie sich gehörlose Menschen Zugänge zu politischer Mitsprache sowie zu Ausbildungen im Feld der Sozialen Arbeit und der Gebärdenspracharbeit erkämpften. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den Akteur:innen und den Konstellationen, die diese Veränderungen ermöglichten. Die Analyse erforderte ein multiperspektivisches Vorgehen und den Einbezug eines heterogenen Quellenkorpus: So stützt sich die Studie auf schriftliche Quellen aus sieben öffentlichen und privaten Archiven sowie audiovisuelle und publizierte schriftliche Quellen der institutionellen Akteure. Einen gewichtigen Teil des Korpus stellen die 25 Oral History Interviews dar, welche die Verfasserin mit Aktivist:innen der Gehörlosenbewegung, gehörlosen Fachpersonen der Sozialen Arbeit und Gebärdenspracharbeit sowie hörenden Unterstützer:innen der Emanzipationsbestrebungen der Gehörlosen geführt hat. Das Material wird gemäss der akteurszentrierten systematisch-rekonstruktiven Hermeneutik in verschiedene strukturelle Zusammenhänge eingeord- net und mit verschiedenen Forschungsfeldern in Dialog gebracht.

 

Erstens zeichnet die Autorin die Formierung der Gehörlosenemanzipationsbewegung seit den späten 1970er Jahren in der Schweiz nach und verortet diese im Kontext der gesellschaftlichen Demokratisierungs- und Pluralisierungstendenzen nach 1968, die sukzessive auch ‹an den Rändern der Gesellschaft› zu mobilisieren vermochten. Die Aktivist:innen der Gehörlosenbewegung, die in engem Austausch mit anderen Emanzipationsbewegungen im In- und Ausland standen, politisierten die marginale gesellschaftliche Stellung gehörloser Menschen: Sie forderten den hegemonialen Expertiseanspruch hörender Fachleute heraus und stellten das eklatante Machgefälle zwischen Hörenden und Gehörlosen in der Gehörlosenarbeit in Frage. Die Kritik an der oralen Gehörlosenschulung, die auf Anpassung an die kommunikative Norm der hörenden Mehrheitsgesellschaft abzielte und die Gebärdensprache systematisch abwertete, und an den begrenzten beruflichen Perspektiven sowie die Forderung nach umfassender Teilhabe Gehörloser im Gehörlosenwesen stellten zentrale politische Schwerpunkte der Gehörlosenbewegung dar. Erst durch die Politisierung der Lage gehörloser Menschen unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit wurde Gehörlosigkeit als soziale Kategorie der Ungleichheit fassbar und ungleiche Zugangschancen im Bildungskontext als Unrechts- respektive Barriereerfahrungen sichtbar.

 

Zweitens untersucht die Dissertation auf einer verbandspolitischen Ebene, wie im Zuge der Politisierung der Gehörlosenbewegung neue Bildungsperspektiven für gehörlose Personen in der Gebärdenspracharbeit sowie in der Sozialen Arbeit entstanden. Dabei zeigte sich, dass die Zusammenarbeit und die Allianzen zwischen Exponent:innen der Gehörlosenselbst- und -fachhilfe eine zentrale Voraussetzung dafür waren, dass gehörlose Personen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren neue Möglichkeiten der beruflichen Teilhabe im Gehörlosenwesen erringen konnten. Zwischen den politischen Forderungen der Aktivist:innen der Gehörlosenbewegung einerseits und den fachlichen Haltungen kritisch-reflektierter Professioneller aus der Sozialen Arbeit und der Pädagogik andererseits, entstanden produktive Wechselwirkungen, die zu einem schrittweisen Wandel in der Gehörlosenarbeit führten. Im Zuge dessen wurde das verkörperte Erfahrungswissen Gehörloser zu einer Ressource für die Arbeit mit Gehörlosen umgedeutet, was auch einen Wandel hinsichtlich der Auffassung von Expertise über Gehörlosigkeit bedeutete. So entstanden in den 1980er Jahren für gehörlose Personen neue Bildungszugänge in der Sozialen Arbeit und der Gebärdenspracharbeit sowie Nischen der professionellen Teilhabe innerhalb des Gehörlosenwesens, die es ihnen ermöglichten, Mitsprache und Deutungshoheit zu erhalten. Insbesondere die Perspektive auf die Soziale Arbeit als Wirkungsfeld für gehörlose Personen ist auch im internationalen Vergleich ein neues Forschungsfeld, das gleichsam zur Geschichte partizipativer Ansätze in der Sozialen Arbeit beiträgt. Die Darstellung der Aushandlungsprozesse über die Mitarbeit Gehörloser im Gehörlosenwesen trägt zum Verständnis von Behinderung als historisch wandelbare und kontingente Kategorie bei und beleuchtet, wie sich im Zuge der Emanzipationsbestrebungen der Ge- hörlosen ein kulturell-sprachliches Konzept von Gehörlosen als gesellschaftliche Minderheit in der Deutschschweiz zu etablieren begann.

 

Drittens nimmt die Dissertation die Bildungs- und Berufsbiographien einer ersten Generation gehörloser Fachpersonen im Gehörlosenwesen in den Blick: Der Fokus auf die erinnerten Erfahrungen der gehörlosen Interviewpartner:innen erlaubt differenzierte Einblicke in Einund Ausschlusserfahrungen gehörloser Personen in ihrem Bildungs- und Berufsweg, die durch die orale Methode der Gehörlosenschule und das Paradigma der beruflichen Eingliederung der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) geprägt waren und trägt so zu einer Wirkungsgeschichte der IV bei. Die Perspektive der Betroffenen ist in Quellen zur Sozial- und Sozialstaatsgeschichte oft unterrepräsentiert. So gilt auch für die Forschung zur IV, dass die Perspektive der betroffenen Leistungsbezüger:innen bislang kaum untersucht worden ist. Die erinnerten Erzählungen der gehörlosen Interviewpartner:innen zeugen von langfristigen und persistenten negativen Auswirkungen von Diskriminierungen und Ausschlusserfahrungen durch die lautsprachliche Schulung in den Gehörlosenschulen und stereotype Zuschreibungen im Berufswahlprozess. Die Möglichkeit, aktivistisch und insbesondere auch beruflich im Gehörlosenwesen tätig zu sein, hatte hingegen eine emanzipatorische Funktion für die gehörlosen Interviewpartner:innen. Als heuristisch nützlich erwies sich dabei das Konzept des Audismus, verstanden als Effekt pädagogischer Praktiken und stereotypisierter Zuschreibungen über die eingeschränkten Fähigkeiten und Chancen gehörloser Menschen, die ungleiche berufliche und allgemein gesellschaftliche Zugangschancen legitimieren und normalisieren. Der IV ist insgesamt eine ambivalente Wirkung zu attestieren: Zum einen stärkte das in der IV-Gesetzgebung verankerte Paradigma der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderungen den lautsprachlichen Schulungsansatz der Gehörlosenschulen und stabilisierte eine Berufseingliederungspraxis, die mit eklatanten Ausschlüssen einher ging. Gleichzeitig profitierte die Gehörlosenselbsthilfe – allen voran der Schweizerische Gehörlosenbund – ab den späten 1980er Jahren von Subventionen der IV. Diese kamen Projekten zugute, die gehörlosen Personen neue BerufsperspektivenimGehörlosenweseneröffneten,undzur Professionalisierung der Gehörlosenselbsthilfe beitrugen. So wirkte die IV indirekt auch fördernd auf die Emanzipationsbestrebungen gehörloser Menschen.

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