Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr. phil
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2018/2019
Abstract
Ein zentrales Projekt des italienischen Faschis- mus war es, durch den Zugewinn Äthiopiens eine Siedlungskolonie zu schaffen, die für die nächsten Jahrhunderte Bestand haben sollte. Mit der Eroberung Äthiopiens setzte sich das faschistische Regime Ziele,die entweder als sehr ambitioniert oder als wirklichkeitsfremd bezeichnet werden können. Das besetzte Gebiet hätte in kürzester Zeit zwei Millionen Siedler aufnehmen und sich zu einem dauernden Aktivposten innerhalb der italienischen Wirtschaft entwickeln sollen. Die militärische Eroberung und die Entwicklung Äthiopiens nahm zwischen 1935 und 1940 durchschnittlich 20,9 Prozent des gesamten italienischen Staatshaushaltes in Anspruch. Diese Gelder hätten auch in strukturschwachen Regionen in Italien selbst investiert werden können. Die hohe Aufwendung an Mitteln, um Äthiopien zu kolonisieren und auszubeuten, unterstreicht den Stellenwert des Vorhabens für die faschistische Regierung. Das «Empire Building» am Horn von Afrika blieb jedoch bis zu seinem abrupten und schnellen Ende weit hinter den hoch gesteckten Zielen zurück. Gründe dafür waren die Kostenentwicklung, der ständige Widerstand der äthiopischen Bevölkerung, die fehlende Vorbereitung des italienischen Personals und des zu etablierenden Herrschaftssystems. Auch die lange betriebene Form der Kolonialpolitik, durch systematischen Terror die Okkupation in eine anerkannte Herrschaft zu überführen, war für diesen Zustand von grosser Bedeutung. Sie erschwerte nämlich die Besetzung des Landes und die Etablierung des neuen Souveräns.
Symptomatisch für das faschistische Abenteuer in Ostafrika war, dass Anspruch und Wirklichkeit oft weit auseinander lagen. Das faschistische Regime wusste erstaunlich wenig über die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort und handelte sich mit der Kolonisierung Äthiopiens Probleme ein, die sich als gravierender herausstellten, als sie von der Führungsriege antizipiert worden waren. Als das Impero ausgerufen wurde, existierten keine Entwicklungspläne für Äthiopien; selbst über die künftige Herrschaftsform hatten sich die italienischen Behörden keine Gedanken gemacht. Hinzu kam, dass die Eroberer kein vertieftes Wissen über die Geschichte, Kultur und über die Menschen des Landes besassen.
In der vorliegenden Analyse werden ausgewählte Strukturschwächen des Versuchs der faschistischen Regierung beleuchtet, aus Äthiopien eine erfolgreiche Kolonie zu machen. Im Fokus stehen hier das theoretisch in Rom projektierte Vorhaben und die tatsächlich herrschenden Umstände in Äthiopien. Die Fallstudie soll einen Beitrag zur noch wachsenden Debatte über den italienischen Kolonialismus leisten. Besonders Äthiopien, die einzige Kolonie, die unter dem Faschismus geschaffen worden war und keine Wur- zeln im italienischen Königreich hatte, kommt in dieser Debatte eine Randposition zu. Durch die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis auf verschiedensten Ebenen und den Divergenzen zwischen Äthiopien und Rom wird die schiefe Basis, auf der die Kolonisierung Äthiopiens fusste, untersucht. Zu diesem Zweck wurden sowohl offizielle staatliche Quellen, als auch Quellen konsultiert, in denen zahlreiche Italiener und Äthiopier in den verschiedensten Funktionen als Zeitzeugen zu Wort kommen. Durch die Gegenüberstellung dieser beiden Quellenarten lässt sich der Spagat zwischen faschistischer Traumfabrik und kolonialer Realität gut beleuchten. Interviews, Tagebucheinträge und Briefe von Arbeitern, Milizionären, Soldaten, kleineren Beamten und Äthiopiern geben Auskunft über die Erfahrungen und Erlebnisse in der Kolonie. Die Tagebücher des Aussenministers Graf Galeazzo Ciano geben Einblick, wie die Ereignisse in Äthiopien in den höchsten Rängen der Regierung wahrgenommen wurden. Zudem zeigen sie, dass der Stellenwert der Kolonie im Laufe der Zeit für das faschistische Italien immer gerin- ger wurde. Weiter wurden die direkten Weisungen aus Rom, sowie die Befehle und Telegramme der «men on the spot» konsultiert. Die offiziellen Diskurse in der Wissenschaft der Akademie und in der Partei, welche die Art und Weise der Okkupation rechtfertigen, wurden ebenso analysiert.
Das von führenden faschistischen Persönlichkeiten propagierte Ziel, aus den italienischen Landpächtern Landbesitzer zu machen, während die Äthiopier zu Tagelöhnern herabgesetzt werden sollten, blieb unerreicht. Die arbeitslosen Massen, die in Äthiopien Beschäftigung und Wohlstand hätten finden sollen, gingen ebenso leer aus. Die permanente Guerilla durch den äthiopischen Widerstand sowie die Kostenentwicklung liessen es nicht zu, weiter auf italienische Arbeitskräfte zu setzen, sodass auf günstigere, äthiopische ausgewichen werden musste. Das ursprünglich skizzierte Konzept der demographischen Kolonisierung wurde dann durch eine Kolonisierung kapitalistischen Typs ersetzt, die auf der Kapitalkraft von italienischen Unternehmen mit staatlich geförderten Monopolen basierte. Äthiopien wurde zwar nicht wie von der Propaganda verheissen zu einem Schlaraffenland für das Proletariat, wohl aber für die Bourgeoisie, die im Dienstleistungssektor und im Spekulationswesen tätig war. Die immer wieder aufflammenden Revolten der Widerstandsbewegung, die Probleme mit der territorialen Verteilung der Grundstücke, die fehlenden Ressourcen sowie der Mangel an Kapital und die Unsicherheit bezüglich der politischen und militärischen Lage vor Ort beeinträchtigten die Entwicklung Äthiopiens und schreckten italienische Immigranten ab.
Das Nachspiel des dramatischen militärischen Triumphes von 1936 war das absolute Scheitern, in den wenigen Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bis zum Verlust von Äthiopien eine langfristige koloniale Entwicklung zu erreichen. Die chaotische militärische und politische Situation hinderte die Okkupanten daran, gegenüber ihren Subjekten eine stabile Politik zu betreiben.