Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr. phil
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2019/2020
Abstract
Noch nie zuvor und wahrscheinlich auch nie seither wurde ein fremdes Staatsoberhaupt von der Schweizer Bevölkerung frenetischer und umjubelter empfangen als Kaiser Wilhelm II. 1912. Der prachtvolle Staatsbesuch des deutschen Kaisers dauerte vom 3. bis zum 6. September 1912. Der Hauptgrund des Besuches in der Schweiz war der Wunsch Wilhelms, einem Manöver der Schweizer Armee beizuwohnen. Er und die mitgereisten ranghohen Offiziere wollten primär höchstpersönlich ermitteln, ob die Schweiz im Falle eines deutschen Krieges gegen Frankreich ihre Neutralität würde verteidigen können. Die internationale Sicherheitslage für Monarch*innen und andere Staatsoberhäupter war um das Fin de Siècle sehr angespannt und etliche von ihnen fielen anarchistischen oder politisch ähnlich motivierten Attentaten zum Opfer. Für die Schweizer Bundesbehörden brachte dies erhebliche Herausforderungen mit sich, denn weder mit Sicherheitsvorkehrungen für Staatsoberhäupter noch mit dem Staatszeremoniell hatten sie viel Erfahrung.
Ziel der vorliegenden Masterarbeit ist es, das Sicherheitsmanagement und das Staatszeremoniell des Kaiserbesuchs zu untersuchen. Es interessieren dabei nicht nur die festgelegten Sicherheitsmassnahmen zum Schutz des Kaisers, sondern auch die übergeordneten Feindbilder der beteiligten Schweizer Sicherheitsbehörden und den ihnen zu Hilfe gesandten deutschen Kriminalbeamten. Die Arbeit folgt der These, dass die Schmach der Ermordung von Kaiserin Elisabeth von Österreich- Ungarn 1898 durch einen selbsternannten Anarchisten in Genf noch in den Köpfen der involvierten Staatschutzbehörden präsent war. Abgesehen von einer Untersuchung von Daniela Rosmus, existiert zu Staatsbesuchen in der Schweiz kaum Forschung. Analoges gilt zum zugehörigen Sicherheitsmanagement. Solche Forschungslücken zu schliessen, strebt die vorliegende Masterarbeit
an.
Mit ihrer Fragestellung zu den Sicherheitsmassnahmen reiht sie sich in die Surveillance Studies ein. Aus dieser Forschungsrichtung übernimmt sie theoretisch-methodische Überlegungen zur Praxis der Überwachung. Mit Blick auf die Untersuchung des Staatszeremoniells greift sie auf theoretische Überlegungen von Johannes Paulmann, Jürgen Hartmann und der bereits genannten Daniela Rosmus zurück. Letztere hat zehn Bestandteile definiert, die zum zeremoniellen Grundgerüst von Staatsbesuchen gehörten.
Zudem nennt die Historikerin nationale Eigenheiten, die bei Staatsbesuchen in der der Schweiz besonders in Erscheinung treten. Diese nationalen Eigenheiten bilden zusammen mit den zehn Bestandteilen das zeremonielle Grundgerüst, nach welchem der Staatsbesuch von Kaiser Wilhelm 1912 untersucht wird. Die Mehrheit der untersuchten Quellen stammt aus dem schweizerischen Bundesarchiv. Dort befinden sich im Bestand des Polizeiwesens die relevanten Kaiserbesuch-Akten der Politischen Polizei. Zudem ist im Bundesarchiv ein knapp neunminütiger Film mit Originalaufnahmen des Staatsbesuches von 1912 erhalten, welcher für die Arbeit von besonderem Interesse ist. Ergänzt wird der Quellenkorpus mit Akten aus dem Stadtarchiv Zürich und dem SBB-Historic Archiv. Um ein möglichst kohärentes Bild über das Sicherheitsmanagement und das Staatszeremoniell zu erhalten, greift die Studie auch auf die in Deutschland verfügbaren Quellen zum Kaiserbesuch zurück.
Die Arbeit zeigt auf, wie anarchistische oder anarchistisch deklarierte Terroranschläge die anarchistische Bewegung zum archetypischen Feindbild machten. Für die Wahrnehmung der Schweiz in Europa war das Attentat auf Kaiserin Elisabeth in Genf 1898 besonders rufschädigend. Das Attentat führte zu national und international koordinierten Bemühungen zur Bekämpfung des Anarchismus. In Europa kam es entsprechend zu einer sukzessiven Modernisierung und Professionalisierung der Politischen Polizeien sowie einer verstärkten internationalen Polizeikooperation. Gegen Ende des langen 19. Jahrhunderts kam es in der europäischen Politik mit Blick auf Staatsbesuche zu einem Prozess der Theatralisierung. Dazu kam ein neuartiger Glanz, mit dem sich die Königshäuser Europas präsentierten und inszenierten. Die Untersuchung des Sicherheitsmanagements zeigte auf, dass vor allem die in der Schweiz lebenden ausländischen Anarchist*innen bei Staatsschützern in der Schweiz und im Deutschen Reich mit einem starken Feindbild in Verbindung gebracht wurden. Von den vor und während des Kaiserbesuchs überwachten Anarchist*innen stammte ein signifikanter Anteil aus dem Ausland. Die These, dass das Sissi-Attentat 1912 bei den Hauptakteuren im Sicherheitsmanagement noch präsent war, konnte bestätigt werden. Die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen für den Staatsbesuch waren Teil eines ausgeklügelten und sorgfältigen Sicherheitsmanagement des Schweizer Bundesstaates. Dabei setzte dieser auch darauf, den Staatsgast während der Fahrten mit offenen Landauern, die als das grösste Sicherheitsrisiko galten, auch durch zivile Zünfte sowie Vereine zu schützen statt durch ein martialisches Aufgebot von Polizei und Militär. Der militärische Charakter des Kaiserbesuches schlug sich dennoch im Zeremoniell nieder, was sich auch bei den festlichen Empfängen in Zürich und Bern zeigte, bei welchen die tausenden von Zuschauer*innen eine für Schweizer*innen unerwartete royale Verehrung an den Tag legten. Der Bundesrat agierte während des ganzen Staatsbesuches selbstbewusst auf Augenhöhe mit dem hohen Gast. Gesamthaft war der pompöse Kaiserbesuch für die Schweiz eine neue und in ihrer verschwenderischen Form eine einzigartige Erfahrung.
Die Arbeit wird in leicht überarbeiteter Form in der Reihe 5 der Berner Studien zur Geschichte erscheinen.