Bevor die Fabriken schliessen. Eine Arbeitsgeschichte der Alusuisse (1960 – 1991)

AutorIn Name
Leo
Grob
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Codirection
PD Dr. Peter-Paul Bänziger
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2021/2022
Abstract
Wie wandelte sich die industrielle Arbeitswelt mit dem Übergang von den Boomjahren der 1960er in die Krisenjahrzehnte danach? Das Dissertationsprojekt untersucht diese Forschungsfrage am Fallbeispiel des ehemaligen Schweizer Aluminiumkonzerns Alusuisse – damals einer der Big Six der weltweiten Aluminiumbranche und zugleich eines der grössten Schweizer Industrieunternehmen. Das Beispiel Alusuisse erlaubt es, die historiografischen Debatten um einen Strukturbruch „nach dem Boom“ empirisch mit den sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen der Neoliberalismus-Forschung und der Subjektivierung von Arbeit zu verbinden. Im Fokus steht der Wandel des Arbeitsmanagements und der industriellen Beziehungen. Der forschende Blick richtet sich zum einen auf die Zürcher Konzernzentrale, auf die „préoccupations“ (Yves Cohen), mit denen das Topmanagement Probleme definierte, sich auf die zukünftige Aktion ausrichtete und die Machtressourcen anderer Akteur*innen zu antizipieren versuchte. Zum anderen werden die Alusuisse-Standorte in Australien, Italien und der Schweiz in den Blick genommen, um die Interaktion von Arbeitskräften, Management und staatlichen Stellen zu untersuchen. Die Quellenbasis bietet das 2016 zugänglich gemachte Firmenarchiv der Alusuisse. Ergänzende Materialien stammen aus regionalen Archiven aus der Schweiz und Italien; ausserdem werden private Nachlässe und Zeitzeugengespräche berücksichtigt. Das Forschungsprojekt beleuchtet als erstes Fallbeispiel die Planungseuphorie des Alusuisse-Managements in den 1960er Jahren anhand der Expansion von Alusuisse nach Australien. Dort stampfte der Schweizer Konzern eine ganze Stadt aus dem Boden – ohne je die Zustimmung der vor Ort lebenden Aborigines einzuholen. Das Management hoffte durch streikpräventive Technologien und eine suburbane städtebauliche Raumordnung, einen Standort der Superlative zu erschaffen. Dieser entpuppte sich aber als nachteilige Risikokonzentration. Denn Alusuisse war stark abhängig von den in Australien hergestellten Rohmaterialien. Streiks, eine hohe Fluktuation der Bewohner*innen und Währungsschwankungen bedrohten ab den 1970er Jahren die Profitabilität des Standorts. Das zweite Fallbeispiel befasst sich mit der Aluminafabrik der Alusuisse in Italien. Sie wurde 1972 vom Zürcher Management geschlossen, womit in der betroffenen Region eine Phase der Deindustrialisierung eingeläutet wurde. Der Schweizer Aluminiumkonzern hatte es in Italien mit einer kämpferischen Belegschaft zu tun. Von den massiven Arbeitskämpfen des Heissen Herbstes 1969 angespornt, forderten die Arbeiter*innen Gesundheits- und Umweltschutzmassnahmen sowie ein Ende von Leistungsanreizen und betrieblichen Hierarchien. Das Management von Alusuisse sah derweil deren unternehmerischen Freiheiten in Gefahr, beklagte zahlreiche Streiks und eine kritische Öffentlichkeit. In Italien experimentierte das Unternehmen mit einer konfrontativen Strategie und versuchte die Betriebe zu restrukturieren. Dies führte zu einer politischen Eskalation. Streiks legten die Betriebe lahm und erst das Versprechen des Staates die Löhne fortzuzahlen, neue Stellen zu schaffen und die Betriebe zu übernehmen, beendetedenKonflikt.Alusuissezogsichjedochaus Italien zurück. Das dritte Fallbeispiel betrifft die Walliser Werke. In diesen mehrten sich ab Mitte der 1970er Jahre die Anzeichen für Umbrüche in den industriellen Beziehungen. Um 1975 setzte eine Trendwende bei den Beschäftigungszahlen und der Lohnentwicklung ein: Nach einer langen Wachstumsphase, begann die Zahl der Arbeitenden nun zu sinken. Auch die Reallöhne stagnierten. In der ersten Hälfte der 1980er Jahren gerieten die Walliser Werke nicht nur in die roten Zahlen, auch mehrten sich die Friktionen zwischen Management und Gewerkschaften. Erstmals seit 30 Jahren scheiterten 1983 die betrieblichen Lohnverhandlungen, es kam zu Restrukturierungen und umfangreichen Personalentlassungen. Automatisierung, das Abschieben von Marktrisiken auf die Arbeitskräfte und die drohenden Betriebsschliessungen verunsicherten die Belegschaft. Die Angst vor der Deindustrialisierung überkam die ganze Region. Die Gewerkschaft SMUV, die mittlerweile das Standortdenken des Managements verinnerlicht hatte, reagierte nur defensiv. Vor diesem Hintergrund lancierte Alusuisse die neue Personalpolitik des Total Quality Managements, mit der das Unternehmen den Zugriff auf die subjektiven Potentiale und das Wissen der Arbeitskräfte stärken wollte. Am Beispiel der Alusuisse kann das Forschungsprojekt die komplexen Prozesse nachzeichnen, welche die Zeitspanne zwischen Mitte der 1970er Jahre und dem Ende der 1980er Jahre als arbeitshistorische Übergangsphase erkennbar werden lassen, in der Arbeitsmanagement und industrielle Beziehungen neugeordnet wurden: Erstens mehrten sich seit den 1970er Jahren die Anzeichen für eine starke Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital. Das Topmanagement von Alusuisse beklagte in den 1960er und 1970er Jahren, dass deren ökonomische „Manövrierfreiheit“ eingeschränkt sei und es sorgte sich um Streiks und eine mangelnde Leistungsbereitschaft der Arbeitskräfte. Vor diesem Hintergrund wählte das Management ein konfrontativeres Vorgehen gegenüber kämpferischen Belegschaften – wie das Beispiel Italiens zeigt. In der Schweiz unterminierte das Management seit Mitte der 1970er Jahre die Arbeitsplatzsicherheit, die Lohnzuwächse und die ‚sozialpartnerschaftliche‘ Verhandlungskultur, die für die Hochkonjunktur charakteristisch gewesen waren. Zweitens wurde in den 1980er Jahren eine generalisierte Wettbewerbsordnung innerhalb des Unternehmens verankert. Dies habe ich als dreigliedrigen Prozess der Vermarktlichung beschrieben: Das Unternehmen öffnete sich stärker zum Markt hin, implementierte Marktmechanismen im Innern und erhob „den Markt“ auch diskursiv zum Fluchtpunkt jeglicher Tätigkeit. Die Unternehmensstruktur wurde dezentralisiert. Kleinere, marktnahe Unternehmenseinheiten mussten mehr (Erfolgs-)Verantwortung tragen. Sie wurden durch Beratungsunternehmen durchleuchtet und anhand finanzmarktorientierter Kennzahlen verglichen und geprüft. In diesem System des Survival of the Fittest konkurrierten die Unternehmenseinheiten um Investitionsmittel und versuchten, Devestitionen oder Sparmassnahmen abzuwenden. Drittens setzte das Management ab Mitte der 1980er Jahre auf Formen der Personalführung, welche die Bewirtschaftung der subjektiven Potentiale und des Wissens der Arbeitskräfte in den Mittelpunkt rückten. Diese subjektivierenden Personalpolitiken waren nicht grundsätzlich neu, konnten sich aber angesichts der grassierenden Angst in der Belegschaft, der neuen vermarktlichten Steuerungsarchitektur und dem verallgemei- nerten Standortdenken erfolgreich ausbreiten.

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