Die Dissertationsschrift, die im SNF-Sinergiaprojekt Doing House and Family an der Universität Bern unter der Leitung von Joachim Eibach entstanden ist, nimmt sogenannte prekäre Eheschliessungen in Bern während der Sattelzeit (ca. 1750 – 1850) in den Fokus. Prekär, d.h. unsicher in ihrer Realisation, waren diese Ehebegehren wegen Ehehindernissen und -einsprachen. Diese wurden von Familienmitgliedern, Verwandten, Gemeinden und ständischen Korporationen – höchst selten auch ex officio von Vertretern der Obrigkeit – auf lokaler Ebene in der Kirche oder im Chorgericht vorgebracht. Anschliessend gerieten sie vor das oberste Berner Ehegericht, wo die heiratswilligen Paare mit unterschiedlichem Erfolg versuchten, ihre ehelichen Verbindungen trotz Widerständen durchzusetzen.
Um die Konstellationen prekärer Eheschliessungen und deren Erfolg in Abhängigkeit von zeitlichen bevölkerungspolitischen Konjunkturen auszuloten, nimmt die Arbeit für das ausgehende Ancien Régime die Rekursmanuale des Berner Oberchorgerichts (1742 – 1798) in den Blick. Durch die Helvetische Revolution veränderten sich die ehegesetzlichen Verhältnisse in der Helvetischen Republik (1798 – 1803) und damit die Bedingungen der Quellenproduktion. Für diesen Zeitraum greift die Arbeit auf Bittschriften ehewilliger AkteurInnen an das Vollziehungsdirektorium der Republik zurück. Das neuerdings konstitutionell verbriefte Petitionsrecht wurde von den Ehebegehrenden insbesondere aus Bern oftmals mit notarieller Unterstützung genutzt. Sie versuchten damit, die dreimalige Verkündigung ihrer bevorstehenden Ehe in der Kirche und damit Öffentlichkeit und Einsprachen aus dem Umfeld zu umgehen, oder die Heiratserlaubnis gegen bereits erfolgte Einsprachen zu erwirken. Nach der Helvetik wurde das Berner Oberehegericht wieder in seine vormaligen Kompetenzen eingesetzt. So werden für die Untersuchung der nachhelvetischen Zeit bis zur Bundesstaatsgründung zum einen wieder die oberehegerichtlichen Rekursmanuale (1803 – 1832) herangezogen. Weil das Gericht mit der Einführung der Berner Zivilgesetzgebung aufgehoben wurde, analysiert die Arbeit zum anderen die entsprechenden Manuale des Amtsgerichts Bern (1832 – 1847). Parallel zu den ehegerichtlichen Quellen werden die in Gesetzen festgeschriebenen Berner Ehenormen und lokale bevölkerungspolitische Debatten untersucht. Letztere fanden Niederschlag in den Diskussionen der Mitglieder der Oekonomischen Gesellschaft von Bern, der Berner Eherichter und der Angehörigen des helvetischen Parlaments.
Durch die Zusammenschau der Quellen geraten die zeitlich bedingten, ehekonstituierenden Faktoren über die Praxis im Ehegericht miteinander in Berührung: Zu diesen Faktoren gehören die relativ stabile Berner Ehegesetzgebung, bevölkerungspolitische Konjunkturen im biopolitischen Diskurs, taktische Aneignungsversuche ehebegehrender Paare, moralische Ökonomien von einsprechenden Gemeinden, Verwandten und Korporationen sowie die Urteilssprechung der Eherichter. Mit der multiperspektivischen Herangehensweise vermeidet die Studie vermeintliche Dichotomien zwischen Normen und Praxis und stellt diese in ein dynamisches Verhältnis zueinander. Dadurch zeigen sich spezifische Interferenzen zwischen strategischer Normierungspraxis der Eherichter, Aneignungsversuchen ehewilliger Paare sowie den Einsprachen der Opponenten. Die Wechselwirkungen zwischen den drei Polen betrachtet die Studie als konstitutives Element eines voranschreitenden Staatsbildungsprozesses. Darin fungiert die Ehe als Scharnierstelle in der Beziehung zwischen Obrigkeit und UntertanInnen bzw. Regierung und BürgerInnen.
Die Analyse der Gerichtsfälle verdeutlicht, dass der Erfolg prekärer Ehebegehren im Rahmen einer zeitlich stabilen Ehegesetzgebung einerseits von den hartnäckigen Taktiken der ehebegehrenden und opponierenden Parteien abhängig war. Andererseits waren diese von günstigen bevölkerungspolitischen Gelegenheiten und dem machtpolitischen Kalkül der entsprechenden eherichterlichen Instanzen abhängig. Im ausgehenden Ancien Régime dominierten ehefördernde populationistische Positionen die bevölkerungspolitische Debatte in Bern. Diese diffundierten unter anderem aus der Oekonomischen Gesellschaft von Bern in das oberste Berner Chorgericht. Dort trafen die ehewilligen Akteure oft auf geburtsständisch legitimierte Gnade, die es den Eherichtern in bestimmten Fällen erlaubte, sich in ihrer Urteilspraxis zugunsten einer populationistischen Bevölkerungspolitik über festgeschriebene Gesetze hinwegzusetzen.
Durch das verfassungsrechtliche Mittel der Petition ergriffen während der Helvetik viele Ehewillige im Sinne der Justiznutzung (Martin Dinges) die Gelegenheit, mit dem Vaterland in ein intimes patriotisches Verhältnis zu treten. Der in den notariell verfassten Bittschriften zum Ausdruck kommende Eigensinn der ehewilligen Paare führte meistens zur Eheerlaubnis und z. T. sogar zur nachhaltigen Aufhebung alter Ehegesetze (Konfessionsunterschiede, Verwandtschaftsgrade, Einzugsgelder, Vermögenslosigkeit) durch die Exekutive und das Parlament. In der richterlichen Praxis wurde die Ehe in dieser Zeit zu einem Menschenrecht, das Eheeinsprachen und Widerstand aus dem sozialen Nahraum weitgehend ausschloss oder zumindest leichter überwindbar machte. Auf diese Weise wurde seitens der Republik in umgekehrter Richtung versucht, eine intensive und direkte Beziehung zwischen patriotischen BürgerInnen und der Nation herzustellen. Die zu Beginn der Republik steigende Zahl der Ehen zeigt, dass sie vergleichsweise viele Gelegenheiten zur erleichterten Eheschliessung bot.
Während die Wiedereinsetzung religiös begründeter Ehehindernisse (Verwandtschaftsgrade, konfessionelle Unterschiede) nach dem Ende der Helvetischen Republik ausblieb, liess die richterliche Praxis unter dem Eindruck des nun die bevölkerungspolitische Debatte prägenden Pauperismus keine Gnade in Eheangelegenheiten mehr zu. Richterlicher Ermessensspielraum war durch den aufklärerischen juristischen Diskurs, der während der Helvetik Eingang in die nachhelvetische Rechtsprechung gefunden hatte, in den Verdacht der geburtsständischen Willkür geraten. Das strikte verfahrensrechtliche Vorgehen der Eherichter baute zunehmend auf schriftlicher Beweisführung auf. Es bot damit dem ehelichen Eigensinn der Akteure immer weniger Raum. Dadurch schloss der juristisch formalisierte Prozess arme und besitzlose ehewillige Paare immer systematischer von der Ordnung legitimer Sexualität aus.
So veränderte sich die Eheschliessung im Zusammenspiel von ehebegehrenden Paaren, verwandtschaftlich- korporativen Opponenten und eherichterlichen Vertretern der Obrigkeit während der Sattelzeit in Bern tendenziell von einem unter populationistischen Vorzeichen relativ grosszügig gewährten Privileg ständischer Gnade über ein universelles Menschenrecht in der Helvetik hin zu einem gehüteten Grundrecht des Besitzstandes, das die unteren Schichten diskriminierte. Die überarbeitete Version der Studie erscheint voraussichtlich im Herbst 2021 unter demselben Titel in der Reihe Konflikt und Kulturen – Historische Perspektiven des Universitätsverlags Konstanz (UVK).