„Im Übrigen ging man zu Fuss“. Alltagsmobilität in der Schweiz 1848 – 1939

AutorIn Name
Benjamin
Spielmann
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2018/2019
Abstract

Die Erforschung von Mobilität in historischer Perspektive war lange Zeit auf die Geschichte der Verkehrsmittel bzw. -wege konzentriert. Im SNF-Projekt „Mobilität im schweizerischen Bundesstaat. Ein neuer Blick auf die Verkehrsgeschichte der Schweiz nach 1848“, aus dem diese Dissertation hervorgeht, wurde erstmals weniger der Verkehr, sondern allgemein die Mobilität ins Zentrum gerückt.

 

In drei Hauptteilen werden in der Dissertation die grundlegenden Entwicklungen der Alltagsmobilität in der Schweiz von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg herausgearbeitet. Alltagsmobilität wird dabei in Pendler-, Freizeit- und Einkaufsmobilität eingeteilt. Der erste Hauptteil beschäftigt sich zunächst mit dem Bau und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, der zweite mit Verkehrsmitteln (Eisenbahn, Tram, Fahrrad, Automobil, Zufussgehen). Es stellt sich heraus, dass ausgebaute Strassen- und Schienennetze sowie moderne Verkehrsmittel bei alltäglichen Mobilitätsbedürfnissen und -praktiken nur eine untergeordnete Rolle spielten. Zwar konnten etwa Wege zum Arbeitsplatz dank günstiger Arbeiter- und Monatsabonnemente, der Verdichtung der Fahrpläne sowie der Elektrifizierung der Netze vielfach mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Auch das Fahrrad war ein wichtiges Pendlerwerkzeug und erlaubte daneben grossen Bevölkerungskreisen erstmals, die nähere Wohnumgebung an den Sonntagen für mehrere Stunden zu verlassen. Die meisten Strecken wurden im Alltag hingegen zu Fuss zurückgelegt: Mangelnde Alternativen, geringe finanzielle Handlungsspielräume, das Warten auf Anschlüsse des öffentlichen Verkehrs, die Schadensanfälligkeit von Fahrrädern, unbefestigte Strassen sowie die fehlende Privatsphäre und die beengten Raumverhältnisse in Eisenbahnen und Trams trugen dazu bei, dass viele Menschen Wege im Alltag zu Fuss zurücklegten. Der Automobilbestand nahm zwar seit der Zwischenkriegszeit stetig zu, doch besass weniger als jeder zehnte Haushalt vor dem Zweiten Weltkrieg ein Automobil. Und wer ein solches sein Eigen nennen konnte, nutzte es in erster Linie in der Freizeit – besonders beliebt waren Sonntagsausfahrten mit der Familie.

 

Daneben waren die räumlichen Aktionsradien im Alltag oft verhältnismässig klein. Dies zeigte sich bei den Einkäufen und in der Freizeitgestaltung. Die Einkäufe wurden in Verkaufsläden und auf Wochenmärkten erledigt, die in Gehdistanz lagen. Die Freizeit spielte sich häufig in oder nahe der Wohnstätten ab: Im Winter verbrachten viele Menschen die arbeitsfreie Zeit im eigenen Wohnhaus oder bei Nachbarn mit Gesang, Spielen und Geschichtenerzählen. Im Sommer standen Spaziergänge hoch im Kurs. Das örtliche Wirtshaus hatte eine grosse Bedeutung für viele männliche Dorf- und Stadtbewohner. Gruppenrabatte der EisenbahngesellschaftenundderSchweizerischen Post ermöglichten es, dass Schulkinder und Angehörige von Vereinen ihr gewohntes Umfeld mit Eisenbahn und Postauto auf Schul- und Vereinsreisen punktuell verlassen konnten, um entlegene Landesregionen kennenzulernen. Alpen- und Seeregionen bildeten häufig das Reiseziel, wo oft auch die wirtschaftlich besser Situierten aus dem In- und Ausland ihre Freizeit verbrachten.

 

Im dritten Teil der Arbeit wird Mobilität anhand von sechs Biografien untersucht, womit die strukturellen Entwicklungen aus den ersten beiden Teilen durch individuelle Perspektiven ergänzt werden. Die Tendenzen aus den ersten beiden Teilen bestätigen sich dabei weitgehend: Das Zufussgehen ist in allen sechs Biografien die vorherrschende Fortbewegungsart. Dies lag einerseits daran, dass Wege im Alltag generell kurz waren und das nahräumliche Umfeld des Wohnhauses nur punktuell verlassen wurde beziehungsweise werden musste. Längere Strecken, etwa für Arzt-, Krankenhaus- oder Verwandtschaftsbesuche, wurden vorzugsweise mit Eisenbahn und Postauto bewältigt. Der Besuch eines regionalen Jahrmarktes brachte eine willkommene Abwechslung in den Alltag. Er war für viele nicht selten der Höhepunkt des Arbeitsjahres, da ein derartiger Besuch neben Einkaufsmöglichkeiten auch Zerstreuung, Vergnügen und die Gelegenheit für das Knüpfen von sozialen Kontakten bot. Andererseits zeigt sich in den Biografien, dass das Mobilitätsverhalten stark von den Bedürfnissen des Alltags geprägt war. Die Arbeit in der Landwirtschaft und in der Fabrik sowie häusliche Verpflichtungen gaben die Tagesstrukturen der Mobilitätsakteure grösstenteils vor, wodurch kaum finanzielle und zeitliche Spielräume bestanden, um individuelle Mobilitätsbedürfnisse abseits der Zwänge und Routinen des Alltags zu realisieren. Moderne Verkehrsmittel waren einerseits kaum erschwinglich, andererseits mit Ausnahme des Pendelns nur bedingt erforderlich. In den Biografien kommt auch zum Ausdruck, dass die residenzielle Mobilität (Wohnsitzwechsel) eine grosse Bedeutung hatte: Umzüge standen etwa in Verbindung mit dem Beginn einer Ausbildung, mit der Gründung einer Familie oder mit dem Wechsel des Arbeitsplatzes. Jüngere Menschen verliessen das Elternhaus vorübergehend, um Sprachkenntnisse zu erwerben sowie Berufs- und Lebenserfahrungen zu sammeln. Diese Aufenthalte lagen nicht selten in anderen Landesteilen oder im Ausland, womit der räumliche Nahbereich deutlich überschritten wurde.

 

Der Dissertation liegt ein breitgefächertes Quellenkorpus zugrunde. Dieses besteht einerseits aus Strassenverkehrszählungen, Eisenbahnstatistiken, Fahrgastzahlen der Bahn- und Tramgesellschaften sowie Automobil- und Fahrradbeständen. Mit diesen eher quantitativen Quellen werden strukturelle Entwicklungen untersucht. Andererseits kommen qualitative Quellen zum Einsatz, mit denen Aspekte von Mobilität auf einer individuellen Ebene herausgearbeitet werden und die helfen, längerfristige Trends auszuleuchten oder zu hinterfragen. Dazu gehören Zeitungsartikel, Reiseführer und Biografien. In Letzteren, die das Herzstück der qualitativen Quellen konstituieren, können alltägliche Mobilitätsbedürfnisse und -muster, aber auch Brüche und Übergänge im Mobilitätsverhalten besonders gut rekonstruiert werden.

 

Auf theoretischer Ebene wird die Dissertation in den jüngeren Entwicklungen der Mobilitätsforschung verortet, die unter dem Begriff „new mobilities paradigm“ zusammengefasst werden können. Auch ein Rahmenmodell, welches auf der umweltpsychologischen Theorie von James J. Gibson basiert, sowie der sozialwissenschaftliche Mobilitätsbiografieansatz sind wichtige Anknüpfungspunkte.

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