Naum Reichesberg (1867 – 1928). Sozialwissenschaftler im Dienst der Arbeiterklasse

AutorIn Name
Aline
Masé
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Patrick
Kury
Codirection
Prof. Brigitte Studer
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2019/2020
Abstract
Nachmann (Naum) Moische Oiwidow Reichesberg, geboren 1867 im Südwesten des Russischen Reiches (heutige Ukraine), kam im Frühjahr 1890 als Student an die Universität Bern und legte ein gutes Jahr später an der Juristischen Fakultät die Doktorprüfung mit dem Hauptfach Nationalökonomie ab. Nach einem kurzen Forschungsaufenthalt an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) in Berlin kehrte er 1892 nach Bern zurück und lehrte bis zu seinem Tod im Jahr 1928 als Privatdozent, ausserordentlicher und ab 1906 als ordentlicher Professor an der hiesigen Hochschule. Naum Reichesberg gründete 1901 das Statistische Seminar und prägte massgeblich den Aufbau der Sozialwissenschaften an der Universität Bern. In Fachkreisen wurde er als langjähriger Redaktor der Schweizerischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik und vor allem als Herausgeber des dreibändigen und rund 4’000 Seiten umfassenden Handwörterbuchs der Schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung bekannt. Reichesbergs Wirken beschränkte sich aber nicht auf die Universität. Er setzte sich als Mitglied eines transnationalen Wissensnetzwerkes tatkräftig für den Arbeiterschutz ein, wobei es ihm gelang, die politische und wirtschaftliche Elite der Schweiz für die Bedeutung sozialpolitischer Massnahmen zu sensibilisieren. Zudem hielt er zahlreiche Vorträge in Arbeiterbildungsinstitutionen. Schliesslich spielte Reichesberg auch eine zentrale Rolle in der russisch(-jüdisch)en „Kolonie“ in Bern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Substruktur rund um die Universität entstand, und war in der schweizerischen Sozialdemokratie gut vernetzt. Er vermittelte mehrfach zwischen den verschiedenen Parteien der russischen Emigration, zwischen der russischen Kolonie und dem schweizerischen Umfeld und zwischen bürgerlichen Sozialreformern und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Trotz seines – auch vom Bundesrat anerkannten – grossen Verdienstes um die Sozialwissenschaften und Sozialpolitik in der Schweiz, wurde Naum Reichesberg das Schweizer Bürgerrecht in der Zwischenkriegszeit wohl hauptsächlich aus antisemitischen Motiven verwehrt. Über das Leben dieses bedeutenden, frühen Sozialwissenschaftlers war bisher kaum etwas bekannt. Dieses Wissensdefizit hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass von Naum Reichesberg kaum persönliche Quellen überliefert sind. Die Suche nach einem Nachlass oder Selbstzeugnissen wie bspw. persönlichen Briefwechseln blieben trotz intensiver Bemühungen erfolglos. Die Autorin musste sich deshalb primär auf Verwaltungsakten (Akten der Politischen Polizei, der kantonalen Berner Polizeidirektion, der Erziehungsdirektion, der Universität Bern etc.) sowie auf Akten von Parteien und Vereinen, darunter die Archivbestände der Schweizerischen Vereinigung zur Förderung des Internationalen Arbeiterschutzes, stützen. Der Mangel an biografischemWissen wird mit einer breiten Kontextualisierung kompensiert, d. h. mit der Betrachtung der Erfahrungen von Naum Reichesberg vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens und der damals geltenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie seines räumlichen und sozialen Umfelds. Die vorliegende Dissertation ist eine biografische Annäherung an Naum Reichesberg, die Individual- und Sozialgeschichte verbindet. Sie hat zum Ziel, aus vielen kleinen Mosaiksteinen ein möglichst umfassendes und lebhaftes Bild von Reichesbergs Leben und Wirken in Bern zu zeichnen, seine „Lebenswelten“ (in Anlehnung an die Arbeiten von Rudolf Vierhaus und Heiko Haumann) zu rekonstruieren und damit einen Eindruck zu vermitteln, wer Naum Reichesberg war, in welchem Umfeld er sich bewegte und wo er sich aus welchen Motiven engagierte. Die Arbeit verknüpft migrationshistorische, wissenschaftsgeschichtliche und regionalgeschichtliche Aspekte und orientiert sich nebst dem Konzept der „Lebenswelt“ an neueren Ansätzen aus der historischen Migrationsforschung und aus der historischen und soziologischen Biografieforschung. Die Biografie Naum Reichesbergs berührt verschiedene, teilweise vergessene Aspekte der Geschichte der modernen Schweiz, die durch seine Person lebendiger und zugänglicher werden. Die zahlenmässig eindrucksvolle Bildungsmigration von (jüdischen) Frauen und Männern aus dem Zarenreich an Schweizer Universitäten, die Aktivitäten der russischen politischen Emigrantinnen und Emigranten im Schweizer Exil und die zentrale Rolle der Schweiz (und einzelner Schweizer Politiker) für die Entwicklung eines internationalen Arbeiterschutzes werfen ein Schlaglicht auf die internationale Verflechtung und die Offenheit des jungen Schweizerischen Bundesstaates um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Da Reichesberg sich entschloss, nach dem Ersten Weltkrieg in Bern zu bleiben, als der Grossteil der Bildungsmigrantinnen und der politischen Emigranten die Schweiz bereits verlassen hatte, lässt sich an seinem Beispiel auch aufzeigen, was die Abschottungs- und Abwehrpolitik der Zwischenkriegszeit für einen Ausländer, Juden und Sozialisten bedeutete. Die Auseinandersetzung mit dem Wirken Reichesbergs in Bern erlaubt ebenso den Blick auf die Internationalität der Universität Bern um die Jahrhundertwende und deren Öffnung für neue wissenschaftliche Disziplinen, auf die Bedeutung von Ausweispapieren und Aufenthaltsstatus im Alltag, auf den Umgang mit der sozialen Frage und auf den politischen Kampf der Arbeiterschaft. Nicht zuletzt betrachtet die vorliegende Arbeit auch die Möglichkeit einer jüdischen Identität abseits von religiöser Praxis so- wie die Wechselwirkung von Fremdzuschreibung und Selbstwahrnehmung. Naum Reichesbergs Lebenslauf war stark durch seine jüdische Herkunft geprägt, das Judentum als Religion hatte für ihn aber kaum Bedeutung. Publikation Open Access: https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/41449/978303401…

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