Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Thomas
Späth
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2012/2013
Abstract
In seiner 1994 erschienenen Autobiographie berichtet Nelson Mandela über eine Aufführung von Sophokles‘ Antigone während seines Gefängnisaufenthaltes und erinnert sich an seine Identifikation mit der tragischen Heldin. Auch in der zum südafrikanischen Klassiker avancierten Produktion The Island (1973), Ergebnis der verbotenen Kollaboration des weissen Theaterschaffenden Athol Fugard und seiner zwei schwarzen Co-Autoren John Kani und Winston Ntshona, wird die Antigone in den marginalisierten Kontext der Gefängnisinsel Robben Island versetzt. Vor diesem Hintergrund verbreitete sich in der Forschung die Ansicht, griechische Tragödien hätten eine nicht unbedeutende Rolle im südafrikanischen Kampf gegen die Apartheid gespielt.
Die Arbeit setzt sich zum Ziel, diese communis opinio einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Sie erarbeitet dafür zunächst eine methodologische Grundlage, die sie an die Stelle der in der aktuellen Forschung verwendeten konventionellen Begriffe und Kategorien setzt. Um die (politische) Wirkung verschiedener Theaterproduktionen zu erfassen, wird ein transparenter Kriterienkatalog entwickelt, der sich auf die theoretischen Ansätze der Rezeptionsforschung und der Postcolonial Studies abstützt und der zugleich auch der Multidimensionalität der südafrikanischen Gesellschaft Rechnung trägt.
Mit diesem Analyse-Instrument untersucht die Arbeit ein Korpus von sieben Theaterproduktionen in Englisch oder Afrikaans, die alle unter dem Regime der Regierung der Nationalen Partei (NP) in Südafrika von Südafrikanern unterschiedlichsten Hintergrunds aufgeführt worden sind. Die systematische Analyse der inhaltlichen Aussagen und der Aufführungsbzw. Publikationskontexte führt zu einer nuancierten Einschätzung der Funktion griechischer Tragödien im Apartheid-Staat Südafrika: Die Vielfalt der Formen und Bedingungen der Aktualisierungen – von universitären Aufführungen im Rahmen der weissen Studenten vorbehaltenen Schauspielausbildung über afrikaanssprachige Produktionen staatlicher Theaterinstitutionen bis hin zu minimalistischen Laienvorführungen in einfachen Mehrzweckhallen schwarzer Townships – lässt eine einfache Deutung im Sinne der verbreiteten Forschungsmeinung nicht zu.
Im Ergebnis zeigt die getrennte Betrachtung von Inhalt einerseits und äusseren, performativen Faktoren andererseits, dass Bearbeitungen griechischer Tragödien zwar in die Dienste der Ant-iApartheid-Bewegung gestellt werden konnten. Doch war die Kenntnis der europäischen Antike in Form von klassisch-humanistischer Bildung auch ein Merkmal der weissen Eliten und als solches ein Machtund Ausschlussinstrument innerhalb der südafrikanischen Gesellschaft. Insbesondere die Übersetzung von Texten aus dem europäischen Kanon, zu dem auch die griechischen Tragödien zählten, diente in der ersten Jahrhunderthälfte der Legitimierung der afrikaansen Kultur und damit der Afrikaaner selbst. Tragödienaufführungen auf Afrikaans, aber ebenso auf Englisch, konnten die Machtverhältnisse der Apartheid folglich auch stützen.
Die in der Arbeit entwickelten methodologischen Werkzeuge erlauben es, diese Komplexität der Antikerezeption in einer mehrfach gespaltenen Gesellschaft zu verdeutlichen und ein Spannungsfeld aufzudecken, das der ApartheidRegierung durchaus bewusst war: Mittels des taktischen Wechselspiels von Inhalt und Aufführungsbzw. Publikationskontext wusste das Regime die Wirkung des Widerstands geschickt zu regulieren. Im Effekt hob das wechselseitige Zusammenspiel von Inhalt und Aufführungskontext sehr oft die vielleicht intendierte politische Wirkung auf.
Das Korpus setzt sich zusammen aus:
- The Island, der oben genannten Produktion von Fugard, Kani und Ntshona, die Sophokles’ Antigone thematisiert,
- Athol Fugards Orestes, der, wie es der Name bereits vermuten lässt, die Orestie des Aischylos zur Grundlage hat,
- der von Guy Butler in Anlehnung an Euripides’ Medea verfassten Demea,
- der von Rob Amato verfassten Neuinterpretation des König Ödipus mit dem Titel Jocasta: A version of the Ödipus Myth,
- einer weiteren, englischsprachigen Fassung der Antigone, die eine Bearbeitung durch den Regisseur Barney Simon erfahren hat,
- zwei V ersionen von Euripides’ Bakchen, einmal in einer afrikaanssprachigen Version von Bartho Smit unter dem Titel Bacchus in die Boland und einmal von Ian Ferguson unter dem Titel Ritual 2378.