Selbst erschaffene Schemata. Die Erfindung des "Iron Curtain"

AutorIn Name
Bernhard
Stüssi
Academic writing genre
Master thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2012/2013
Abstract
„Indem ihr alles auf diese Antinomie zwischen Osten und Westen zurückführt, müsst ihr – das ist unvermeidlich – den Schemata zum Opfer fallen, die ihr selbst erschafft.“ Diesen Vorwurf machte 1953 der im argentinischen Exil weilende polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz seinem Kollegen Czesław Miłosz. Die Existenz einer „Antinomie zwischen Osten und Westen“ stritt Gombrowicz nicht ab, er hielt es aber – dem Zeitgeist zum Trotz – für verfehlt, den Iron Curtain, den Eisernen Vorhang, als vorgegebene Bedingung in allen Lebensbereichen zu verwenden. Letzteres nannte Gombrowicz die „Konzeption einer simplifizierten Welt“. War diese „Konzeption“ der Kalte Krieg, so geschah die Simplifizierung der Welt durch den Iron Curtain – dieser kann als eigentliche Frontlinie des Kalten Kriegs gesehen werden. Diese Arbeit geht den Fragen nach, wie der Begriff Iron Curtain (in Form eines Eigennamens) die eindeutige Konnotation der Trennung in Osten und Westen erhielt und wie diese Trennung als universelle Kategorie vorgestellt wurde. Im ersten Teil wird die Begriffsgeschichte des iron curtain von der ersten fassbaren Erwähnung (1794) als Schutzvorrichtung im Theater bis zu den ersten Verwendungen als Metapher für die Abschottung des bolschewistischen Russlands (ab 1918) betrachtet. In der Konnotation des Begriffs Iron Curtain trat dabei der trennende Aspekt des “Vorhangs“ zulasten des schützenden zunehmend in den Vordergrund. Bereits im Jahr 1900 sprach der irische Nationalist Timothy Michael Healy im House of Commons von einem iron curtain, der im Rahmen des zweiten Burenkriegs zwischen den Augen der englischen Regierung und der Tragödie in Südafrika niedergelassen worden sei. In einer solchermassen auf (National-) Staaten angewandten Bedeutung fand der iron curtain daraufhin vorerst im Bereich der Literatur Verwendung. Die britische Schriftstellerin Vernon Lee (Violet Paget) sah 1914 den Ersten Weltkrieg als Ursache eines iron curtain zwischen der britischen und der deutschen Bevölkerung. 1915 schrieb der amerikanische Chirurg George Washington Crile von einem iron curtain, den Frankreich an seiner Grenze zu Deutschland hinuntergelassen habe, da es gegenüber seinem Nachbarland eine „deep rooted grievance“ habe. Deutschland trägt hierbei bereits starke totalitäre Züge (ohne dass Crile den Begriff des Totalitarismus verwenden würde). Von der deutschen Grenze auf diejenige des bolschewistischen Russlands, beziehungsweise der Sowjetunion, übertragen wurde der Begriff gleichzeitig mit der propagierten Erkenntnis, dass „Bolshevism was an article of German export“ (Alan Percy, House of Lords 1923). Dabei spielte die Wahrnehmung auch des Bolschewismus als totalitäre Ideologie eine gewichtige Rolle. Bereits die Oktoberrevolution wurde mit dem iron curtain in Verbindung gebracht, so 1918 vom russischen Schriftsteller Vasilij Vasil’evič Rozanov, der sie als Apokalypse der russischen Geschichte sah. 1920 beschrieb die britische Labour-Aktivistin Ethel Snowden in ihrem Buch “Through Bolshevik Russia“, wie sie mit einer Delegation hinter den iron curtain reiste. In den folgenden zwei Teilen der Arbeit werden räumliche und zeitliche Aspekte des Iron Curtain anhand der Forschungsliteratur erläutert. Es kann festgestellt werden, dass die von Gombrowicz konstatierte Simplifizierung der Welt nicht nur ein zeitgenössisches Phänomen war, sondern sich auch in grossen Teilen der neueren Forschung niederschlägt. Ausgehend von Hansjörg Siegenthalers These, dass „Textfassade eine soziale Realität“ sei und Michel Foucaults Theorie der so genannten “Heterotopien“ als tatsächlich verwirklichte Utopien wird in dieser Arbeit die Erfindung des Iron Curtain weiter verfolgt. Als Quellen dienen die britischen Tageszeitungen Times, Manchester Guardian und Daily Mirror. Während der iron curtain vor dem Zweiten Weltkrieg zwar bereits einen guten Teil seiner späteren Bedeutung als Iron Curtain hatte, so bestand darüber noch kein Konsens und der Begriff widerspiegelte aufgrund seiner verhältnismässig geringen Verbreitung keine soziale Realität. Beides begann sich erst ab 1944 zu ändern, wobei Zeitungen eine entscheidende Rolle spielten. Die erste Erwähnung des iron curtain im Sinne einer Abschottung der von der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebiete ist hier in der Times vom 11. Juli 1944 zu finden – die eine deutsche Propagandamitteilung zitiert. Ab 1945 entwickelte sich in der Presse eine “britische Vorstellung des iron curtain“, die eine Informationsbarriere an der Grenze des sowjetischen Einflussgebiets darstellte, jedoch nicht in einer bipolaren Welt, sondern in einer Nachkriegsordnung, in der die “Big Three“ Grossbritannien, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gemeinsam die Verantwortung für den Wiederaufbau tragen sollten. Winston Churchill und Ernest Bevin waren massgeblich daran beteiligt, dass dieser Ansatz auch rhetorisch zugunsten einer anglo-amerikanischen Zusammenarbeit als Gegengewicht zur Sowjetunion aufgegeben wurde. Im Nachgang der Friedenskonferenzen in Moskau und Paris wurde im Sommer 1947 der Iron Curtain eine durch die Presse vorgestellte soziale Realität, die über vierzig Jahre Bestand haben sollte.

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