Der Französischen Revolution in ihrer antiklerikalen Haltung wird gemeinhin ein säkularer Charakter zugesprochen. Sie gilt als das Ereignis, das die Einheit von Politik und Religion aufhob und in Konsequenz zum laizistischen Frankreich führte. Bei dieser Betrachtungsweise wird jedoch nicht beachtet, dass die Revolution selbst über religiös konnotierte Eigenschaften verfügte. Dafür gibt es folgende Anzeichen:
Mit dem Beginn der Revolution bildete sich eine neue Gemeinschaft. Diese Kollektivierung geschah in der Anfangszeit der Revolution sehr integrativ; so war es zum Beispiel Ausländern möglich, sich in Frankreich einbürgern zu lassen – solange sie die Verfassung und die Menschenund Bürgerrechte anerkannten. Die kollektive Identität wurde aus dem politischen Gebilde der heiligen Nation geschöpft, die dem christlichen corpus mysticum ähnelte und sich auch darauf bezog.
Ausschweifende Revolutionsfeste luden die neue Ordnung mit Emotionen auf, die sie für den Einzelnen erlebund erfahrbar machte. Diese Feierlichkeiten dienten auch der Integration, weil durch sie die Einheit der Nation Wirklichkeit wurde. Zudem erfuhren die Revolutionäre bei diesen Veranstaltungen auch die transzendente Dimension der Bewegung. Grenzen von Raum und Zeit verblassten – nationale Mythen wurden zum Leben erweckt und in den Alltag getragen. Andererseits orientierten sich die neuen Rituale natürlich auch an den traditionellen Bräuchen, die zum Teil übernommen und umgedeutet wurden. Man kann also durchaus von einer reziproken Beziehung zwischen Ritualen und Festteilnehmern sprechen. In einem formelleren Rahmen dienten auch die Bürgereide der Integration – diese stellten den Übergang vom Aberglauben zum reinen Glauben beziehungsweise vom Heiden zum gläubigen Bürger, zum Subjekt in der Politik dar.
Die Revolution beinhaltete eine innerweltliche Heilsund Erlösungsdoktrin. Man definierte seine Zugehörigkeit zur Gruppe als Bürger und als Neuer Mensch. Ferner entstanden säkulare Kulte der Vernunft und der Einheit sowie das deistische Fest des Höchsten Wesens. Beide Feiern trugen zur Sakralisierung der Gemeinschaft bei, die sich als Nation in einer Vorreiterrolle in der Geschichte zu erkennen glaubte: Frankreich sei heilsgeschichtlich dazu bestimmt, die Freiheit unter den unterdrückten Völkern Europas zu verbreiten – davon waren die Revolutionäre fest überzeugt.
Die gesellschaftliche Transformation wurde als Ziel revolutionärer Politik begriffen; nur durch die Erziehung der Bürger konnten die utopischen Visionen umgesetzt werden. Die Gegenüberstellung der beiden Ordnungen, nämlich Ancien Régime einerseits und revolutionäre Bewegung andererseits, bekräftigte die Gewissheit, sich in einer Neuen Zeit, einer neuen Epoche der Menschheit zu bewegen. Die Einführung des neuen Kalenders, der Neuen Zeit, verdeutlichte den Bruch mit der Tradition. Insbesondere diese neue Zeitzählung bewirkte eine tiefgreifende Veränderung der revolutionären, kosmologischen Weltsicht des Individuums.
Die Revolution verfügte über heilige Artefakte und Zeichen, beispielsweise das heilige Feuer, den Vaterlandsaltar, die Kokarde, die Freiheitsbäume, die Tafeln mit den Menschenrechten und der Verfassung. Um die so genannten Märtyrer der Freiheit, die wie Heilige verehrt wurden, rankten sich Heldenmythen, die in ihrer Funktion ebenfalls integrativ wirkten.
Durch eine eigene Sprache und neue Symbole entstand ein republikanischer Kosmos – eine sinnhafte Ordnung. In dieser Ordnung fanden die Menschen ihren Platz; Zeit und Raum bekamen eine neue Bedeutungsebene und wurden in einen grösseren, nämlich transzendenten Zusammenhang gestellt. Legitimiert wurde die neue Sinnhaftigkeit durch symbolische Bezüge. Lieder, Katechismen und bildliche Darstellungen halfen dabei, den Kosmos unter das Volk zu bringen. Dabei bedienten sich Künstler, Musiker und Politiker des Materials, das bereits in ähnlicher Form vorlag und variierten es in ihrem Sinn. Diese Weltsicht legitimierte das politische System mit seinen Forderungen, wirkt aber gleichzeitig auch normativ und sinnstiftend für die Menschen.
Mit der Hinrichtung König Ludwigs XVI. als Privatperson Louis Capet und der damit einhergehenden Desakralisierung des Königtums setzte sich die Körperschaft der souveränen Nation an seine Stelle und übernahm die sakrale Position gleich mit: Die Gesellschaft vergottete sich somit selbst, indem sie Gott als aussergesellschaftlichen transzendenten Bezugspunkt funktional in die Gesellschaft integrierte. Die Nation als Kollektiv wurde ausschliesslicher Bezugspunkt für das Individuum – ein radikaler Wandel von Jenseitigkeit zu Diesseitigkeit fand statt.
Die innerweltliche Heilssuche geschah weitgehend in der politischen Sphäre. Das öffentlich-gesellschaftliche Zentrum avancierte zum sakralen Handlungsbereich der Realisierung messianischer Erwartungen und Utopien. Die Nation wurde religiös repräsentiert und legitimiert: Der Kampf für die Revolution wurde ein Kampf für das Gute und gegen das absolute Böse, das durch alle Kritiker beziehungsweise Feinde repräsentiert wurde.
Mit dieser Ausgangshaltung können auch die ‚Missionsreisen’ erklärt werden. Die in der Revolution vertretenen universell-innerweltlichen Heilsansprüche und Werte mussten – aus der Sicht der französischen Repräsentanten – unter anderen Völkern verbreitet werden. Die Mission wurde dabei zur heiligen Pflicht – sowohl in Frankreich als auch jenseits der Landesgrenzen. Die Freiheit war mit Taten statt Worten zu erkämpfen, um sich selbst zu legitimieren und dem ideologischen Anspruch gerecht zu werden.
Die massgeblichen revolutionären Akteure und Ideologen verstanden sich als moralisch überlegene Elite, als Hüter der wahren und reinen Revolution sowie der Freiheit und der Vernunft, die den Auftrag hatten, einen Heilsplan, eine Neue Zeit, zu realisieren.
Ab dem Jahreswechsel 1792/93 kippte die Stimmung: Das offene, integrative System wurde nun durch Diskriminierung ersetzt; von allen Revolutionären wurde eine exklusive Identifikation mit den Erlösungsvisionen gefordert. Anhänger alternativer Glaubenssysteme wurden als Ketzer, Ungläubige und Konterrevolutionäre bekämpft und hart bestraft. Die Konterrevolution, die im Innern und von aussen gegen die Nation stand, wurde als existentielle Bedrohung empfunden: Einerseits im militärischen Sinne, andererseits aber auch als Angriff auf die ideologisch-religiöse Weltdeutung. Eine undurchbrechbare Spirale der Gewalt begann sich zu drehen, in deren untersten Kreisen die Revolutionäre sich gegenseitig unter die Guillotine brachten – man bezichtigte sich gegenseitig „Verräter der reinen Revolution” zu sein. Befürworter des entfesselten Terrors wiesen darauf hin, dass man einen kranken Körper – wie in der Chirurgie auch – manchmal nur so retten kann, indem einzelne Gliedmassen amputiert werden. Die Todesurteile dienten also letztlich der nationalen Reinigung.
Mit dem „Entgleisen“ (Furet) der Revolution vollzieht sich der Wandel von einer zivilen hin zu einer politischen Religion. Die beiden Forschungskonzepte, die für die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts Anwendung finden, eignen sich auch, um die Französische Revolution zu untersuchen. Fazit: Für die Französische Revolution kann nicht von einer Desakralisierung oder Entreligiosifizierung, sondern höchstens von einer Dechristianisierung gesprochen werden: Die Revolution weist funktionale Gemeinsamkeiten mit katholischen Praktiken auf. Ihre Kulte, Vorstellungen und Mythen konstruierten einen sinnhaften, transzendenten Kosmos, in dem die Nation das geheiligte Zentrum darstellt, auf das sich das private und soziale Leben ausrichtet.
Freiheit und Gleichheit oder Heil und Erlösung. Sakrale Politik in der Zeit der Französischen Revolution 1789-1794
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Heinrich Richard
Schmidt
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2009/2010
Abstract