Vilnius-musu, mes-rusu!“ Die Politik der litauischen Regierung gegenüber der Sowjetunion 1939/40 und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit

AutorIn Name
Tobias
Privitelli
Academic writing genre
Licenciate thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2002/2003
Abstract

Nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August 1939 und des deutsch-sowjetischen Angriffs auf Polen begann die Sowjetunion unverzüglich mit der Einverleibung der drei baltischen Staaten: Durch Beistandsverträge wurden sie gezwungen, die Stationierung sowjetischer Truppen auf ihrem Territorium zuzulassen. Litauen wurde dieser Vertrag durch die Wiederangliederung des vormals polnischen Vilnius-Gebiets versüsst. Auf diesen Zusammenhang bezieht sich der Spruch „Vilnius – mūsų, mes – rūsų!“ (dt. „Vilnius gehört uns, wir den Russen“), der im Herbst 1939 in Litauen die Runde machte: Man erhielt zwar die verfassungsmässige Hauptstadt zurück, war nun aber der Roten Armee ausgeliefert.

 

Die Arbeit fokussiert auf den Zeitraum vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt bis zum formellen Anschluss Litauens an die UdSSR am 3. August 1940. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Politik der litauischen Regierung gegenüber der Sowjetunion, wobei litauische, sowjetische und deutsche Primärquellen herangezogen werden; vor allem diplomatische Korrespondenz und Protokolle des Ministerrats. Im zweiten Teil stellt sich die Frage, wie die litauische Regierung der Öffentlichkeit ihre Aussenpolitik schmackhaft machte. Dazu dient die Analyse der grössten vier Tageszeitungen, welche die stärksten politischen Lager repräsentierten, und von Dokumenten der einzigen litauischen Nachrichtenagentur ELTA. Als weitere Quellen werden die Berichte der Sowjetgesandtschaft in Kaunas zur litauischen Presse und Gespräche mit Zeitzeugen genutzt. Neben der englisch- und deutschsprachigen Literatur, welche oft der Feder von Amerikalitauern entstammt (Sabaliűnas, Vardys, Misiunas, Eidintas), wird auch die litauische Forschung seit der Perestrojka berücksichtigt (Rudis, Anušauskas, Vaišnys, Truska-Kontroverse).

 

Es hat sich gezeigt, dass der Schlüssel zum Verständnis der sowjetisch-litauischen Beziehungen vor der Annexion und der Aussenpolitik Litauens in der Zwischenkriegszeit im Vilnius- Konflikt liegt: Die polnische Armee annektierte 1920 die vormals litauische Vilnius-Region, was jahrzehntelange Spannungen zwischen den beiden Staaten hervorrief. Nach dem Verlust seiner Hauptstadt brach Litauen sämtliche Beziehungen zu Polen ab. Weil die Sowjetunion den litauischen Anspruch auf Vilnius stets uneingeschränkt anerkannte, pflegte Litauen im Unterschied zu Estland und Lettland gute Beziehungen zu Moskau. Die Sowjets profitierten vom latenten polnischlitauischen Grenzkonflikt insofern, als dieser jede wirksame Zusammenarbeit der „zwischeneuropäischen“ Staaten (Baltikum, Polen, Finnland und Rumänien) verunmöglichte. Innerhalb der Staatengemeinschaft war Litauen zum Zeitpunkt des Sowjetultimatums isoliert, da es wegen des Vilnius-Konflikts die Brücken zu manchen „polenfreundlichen“ Nationen abgebrochen hatte.

 

Nach der Stationierung der Sowjettruppen bemühte sich die litauische Regierung, der Sowjetunion keinen Vorwand für eine Annexion zu liefern. In ihrer Haltung gegenüber Moskau war sie gespalten und lavierte: Während Staatspräsident Smetona und einige nationalistische Minister für bewaffneten Widerstand plädierten, vertrauten die christdemokratischen und volkssozialistischen Regierungsmitglieder den Beteuerungen der Sowjets. Der Öffentlichkeit suggerierte die litauische Regierung, der sowjetische Staat, mit dem Litauen seit 1920 eine „enge Freundschaft“ verband, liesse sich von der kommunistischen Ideologie, die es im Innern Litauens zu bekämpfen galt, trennen. Von der Presse wurde nun eine sowjetfreundliche Haltung verlangt: Im Oktober 1939 verschärfte die Staatsführung die Kontrolle über die Berichterstattung zu den litauisch-sowjetischen Beziehungen und übte via Nachrichtenagentur, Kontrollbehörde und staatseigene Medien Zensur aus. Die Medien bemühten sich, den obrigkeitlichen Forderungen zu entsprechen und berichteten vorsichtig und beschönigend über das Sowjetimperium.

 

Zunächst versuchte die sowjetische Gesandtschaft in Kaunas den Anschein zu erwecken, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Litauens einzumischen und die litauische KP (LKP) nicht zu fördern – getreu Stalins Ausspruch gegenüber dem litauischen Aussenminister Urbšys: „Unsere Mannschaften würden auch einen kommunistischen Aufstand niederschlagen helfen, wenn es in Litauen zu einem solchen kommen würde.“ So ging der Ministerrat davon aus, Antibolschewismus im Innern sei weiterhin gestattet und liess die Verhöhnung Linksintellektueller in der Presse zu. Ab März 1940 reagierte die Sowjetgesandtschaft jedoch beleidigt auf solche Äusserungen. Sie ermutigte die LKP im Hinblick auf die 1. Mai-Feier zu erhöhter Aktivität und provozierte dadurch vermehrt antikommunistische Reaktionen von Politikern und Presse. Die UdSSR nahm diese zum Anlass, Mitte Juni 1940 den litauischen Aussenminister in den Kreml zu bestellen und mit dem Vorwurf, in Litauen herrsche eine antisowjetische Stimmung, zu konfrontieren: Russen seien attackiert, Sowjetsoldaten entführt worden. Molotov verlangte von Litauen ultimativ, eine prosowjetische Regierung zu bilden und den Einmarsch einer unbeschränkten Zahl Rotarmisten zuzulassen. In den folgenden sechs Wochen wurde die Annexion Litauens an die UdSSR abgeschlossen.

 

Gerade weil die Sowjetunion ihre Kritik an Litauen an dessen Russlandberichterstattung festmachte, erwies sich die Auseinandersetzung mit Zeitungsquellen und diplomatischer Korrespondenz zum Thema als sehr fruchtbar. Der Kreml kalkulierte im Annexionsplan, den er seinen Vertretern im Baltikum wohl im Februar 1940 auseinandersetzte, die Reaktionen des Gegners mit ein und vermochte Litauen so erfolgreich zu erpressen. Litauen war der Sowjetunion vom September 1939 an informationspolitisch ebenso ausgeliefert wie militärisch.

 

Resultate der Arbeit werden in der Internetzeitschrift „Estmonde“ präsentiert: www.estmonde.ch

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