Big Data bezeichnet nicht nur eine Ansammlung riesiger Datenmengen, sondern auch ein Phänomen, das durch Datenauswertungen und Datenanalysen Veränderungen in gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen hervorbringt. «Data are not only digital material, they find an impact on society and they form not least the substantive conditions in which we find ourselves.» Dieses Zitat des Soziologen und Philosophen Bruno Latour eröffnete die zweitägige Konferenz Datenspuren: Big Data im Kontext von Kultur und Gesellschaft in Basel und zog sich wie ein roter Faden durch alle Kernthesen der vortragenden ExpertInnen aus interdisziplinären und transdisziplinären Feldern.
Historische Rückblicke und Paradigmen bereicherten die Tagung um hilfreiche Erkenntnisse zu Datenprognosen und Wissensgenerierung: So eröffnete RAMÓN REICHERT (Wien) die Konferenz mit einem Blick auf die «Machtgeschichte» und tektonischen Aspekte «der Herstellung sozialprognostischen Wissens»1. Big Data sei nicht nur eine digitale Datenpraktik der Grossforschung, sondern auch als computertechnologische Infrastrukturen und digitale Methoden zu verstehen, welche datenbasiertes und datengesteuertes Wissen erzeugen. Bereits mechanische Datenpraktiken des 19. Jahrhunderts, wie z.B. die Lochkarte zur Aufnahme von Bestandsdaten, zeigten, dass «nummerische Repräsentationen des körperlichen Produktivismus auf das Engste mit den Vorstellungen von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prosperität verknüpft sind.» Reicherts Beitrag verdeutlichte, dass die heutige Datenerfassung auf historische Bezüge der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Moderne zurückzuführen ist und als Machttechnik und «sozialprognostisches Wissen» nicht erst durch den Einsatz digitaler Infrastrukturen entstanden ist.
ORIT HALPERN (New York) referierte über erkenntnistheoretische Transformationen der Gouvernementalität bezogen auf Wahrnehmung, Kognition und Macht. Forschungsprojekte aus den Kognitionswissenschaften und Neurowissenschaften der Nachkriegszeit, wie jenes des MIT Recherchelabour für Elektronik What the Frog's Eye Tells the Frog's Brain (1959), und der Artikel des Kognitivpsychologen George A. Miller The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing Information (1956) veränderten das Verständnis von Wahrnehmung und Kognition in Bezug auf Technologien im Bereich Design, Militär und Politik massgeblich. Kognition und Wahrnehmung seien gleichwertig zu verstehen, als Kommunikationskanäle zu behandeln und dadurch übertragbar auf technologische Entwicklungen. Ebenso führten die Forschungsprojekte zur Erkenntnis, dass das Gedächtnis genauso wie Kommunikationskanäle beeinflusst werden könne und Kognition ein algorithmischer Prozess sei, der ebenso manipuliert werden könne. Die Filminstallation Glimpse of the USA, gestaltet von Charles Eames und gezeigt in einer von Buckminster Fuller gestalteten Kuppel im Rahmen eines Kulturaustausches zwischen der UdSSR und den USA auf der American National Exhibition in Moskau (1959), orientiere sich bewusst an solchen Erkenntnissen aus Kognitionswissenschaften und Neurowissenschaften. Halpern bezeichnete die Ausstellung weniger als Kunstprojekt, sondern vielmehr als «Architecture of Perception», eine Fallstudie der Kommunikationstheorie und ein kritisches Experiment im Informationsmanagement.2
SHINTARO MIYAZAKI (Basel) brachte neue Gedanken über Datenforschung und Datenpraktiken ein, indem er historische Datenanalysen mit Datenvisualisierungen und künstlerischen Datenpraktiken kontextualisierte. Dabei schlug Miyazaki Sonifikation als Alternative für Datenvisualisierungen und notwendige Ergänzung für ein umfassenderes Verständnis unserer Datenkultur und Dateninfrastruktur vor. Weiter liess sich Miyazaki von der Ping Echo Request-Methode der 1970er Jahre inspirieren, eine Diagnosemethode in der ein Objekt als «Sound» gesendet wird, um anhand des Verhaltens des «Echos» Erkenntnisse über die Infrastruktur des Netzes zu gewinnen. Miyazaki rief zur «Practice-based ecology» auf und erweiterte den Begriff des Pings um eine künstlerische Praxis, in der «Ökosysteme» des digitalen Raums durch den Akt des pingings kritisch auf die datenbasierte Gesellschaft reflektiert und erforscht werden.
Weiter wurde betont, dass bei der Webforschung das Verhältnis zwischen technischen und sozialen Akteuren mitreflektiert werden müsse, um falsche Ergebnisse zu vermeiden. Das zeigte SABINE NIEDERER (Amsterdam) anhand neuer Ansätze zur Datenforschung, die digitale Methoden mit quantitativen Methoden aus den Sozialwissenschaften kombinieren. Ein Forschungsbeispiel ist die Enzyklopädie Wikipedia, deren inhaltliche Qualität bisher nur anhand von humanen Akteuren untersucht wurde, obwohl Wikipedia als eine soziotechnische Plattform und als eine Kollaboration zwischen menschlichem Nutzer und «Content Bots» zu verstehen ist.3
Dass Bedeutungs- und Entscheidungsträger durch nummerische Kriterien gesteuert werden und Data-mining als ein betriebsökonomisches Werkzeug der Moderne verstanden werden kann, machte ROBERTO SIMANOWSKI (Hong Kong) anhand des Museums als Beispiel deutlich: Inhaltliche Entscheidungen vieler Museen würden mittels Auswertungen von Trends und Interessen der BesucherInnen getroffen. InformatikerInnen und ManagerInnen lösten KunstexpertInnen ab, sodass laut Simanowski das «Ende der Expertokratie durch Partizipation und Demokratisierung» in Aussicht gestellt wird. Seine Kritik unterstrich Simanowski durch Adornos Konzept der nichtidentischen Kunst. Kunst dürfe dem Publikum nicht nach seinen Wünschen dienen, sondern die Kunst diene dem Betrachter, weil sie nicht nach seinem Willen agiere. Adorno schreibt der Kunst eine Autonomie zu und gerade diese Autonomie und Unverfügbarkeit sei es, durch die Kunst und Gesellschaft verbunden blieben, indem die Kunst den Menschen «über sich hinaus treibt.»4
Auch FELIX STALDER (Zürich) warf einen kritischen Blick auf partizipative und demokratische Strukturen des Netzes, welche durch die Integration der «sozialen Basis» in Verhandlungs- und Bedeutungsprozesse erzeugt würden. Anders als zu jener Zeit, als noch traditionelle Institutionen Bedeutungsansprüche verhandelten und Kulturproduktionen bestimmten, werde heute durch die Entwicklung des Internets zum Massenmedium die Gesellschaft zum aktiven Produzenten von Bedeutungsansprüchen. Aus dieser neuen Situation ergäben sich zwei Tendenzen im Umgang mit Partizipation und Entscheidungsprozessen: Einerseits würden neu entstandene Verhandlungsinfrastrukturen strategisch von EntscheidungsträgerInnen auf postdemokratische Weise entkoppelt, wie z.B. bei Google oder Facebook, andererseits würden Versuche gestartet, um neue Formen der Massenpartizipation und Einbeziehung von KulturproduzentInnen in den Kreis der Entscheidungsträger zu ermöglichen, wie z.B. bei dem Konzept Commons5 oder Wikipedia.
JUTTA WEBER (Paderborn) machte mit dem Thema Joyfull Surveillance darauf aufmerksam, dass Überwachung und Sicherheit sehr nah beieinander liegen, und hinterfragte dabei den paradoxen, lustvollen Umgang mit Sozialen Medien. Diese Anziehungskraft von Sozialen Medien begründete Weber mit der Such-Mess-Struktur der Plattformen, mit dem Bedürfnis des Menschen, in grössere Prozesse eingebunden zu sein und Teilhabe an Sozialem Kapital zu erlangen. Der zirkuläre Prozess aus Sehen und Wahrnehmen werde zu vergleichenden Abläufen für Subjektkonstitution und Anerkennung. Zudem böten Soziale Medien eine von der Technologie erzeugte Sicherheit und würden zu Produkten «unserer Techno-Sicherheitskultur.» Diese vorstrukturierten «Wohlfühlräume» arbeiteten einer kapitalistischen Logik zu, weil ihnen durch Premediation und Prävention eine produktive Natur zugeschrieben werden könne. Somit entwickle sich die lustvolle Partizipation und Subjektkonstitution durch Soziale Medien zu einer «Schein-Sozialität» und Buttom-Up-Machtlogik, die kapitalisiert werde.
Das vielseitige Phänomen Big Data wurde nicht nur kritisch auf dessen Machtstrukturen, Verschiebungen von Bedeutungsträgern und technischen Konditionen hin reflektiert, sondern auch als künstlerisches und historisches Werkzeug für Visualisierungstechniken diskutiert: LEV MANOVICH (New York) prägte den Begriff Cultural Analytics, der für Analysen grosser Datensätze anhand von Visualisierungstechniken steht. Mit seinem Forschungslabor Software Studies Initiative entwickelte Manovich solche Analysemethoden, um neue und erweiterte Perspektiven auf soziale und historische Datenrealitäten zu eröffnen. Das Besondere an Manovichs Visualisierungen ist das Zusammenspiel von Detail und Allgemeinem. Ohne dass Inhalte generalisiert und reduziert werden müssten, bleibe die Möglichkeit auf einen Gesamtüberblick und gleichzeitig auf detaillierte Ansichten einzelner Elemente. Aufgeführte Projektbeispiele waren die Sammlung der 4535 Time Cover (1923-2009), die einen historischen Überblick über die Entwicklung und Veränderungen der Cover-Gestaltung gebe, sowie Auswertungen von Instagram-Fotos z.B. aus Tel Aviv und Israel, die Einblicke in soziale, kulturelle und politische Aktivitäten erlaubten.
Die Künstlerin ELLIE HARRISON (Glasgow) nahm sich schon in einer Zeit ohne Smartphones und Apps grosser Datenbestände an. Zu jener Zeit sammelte sie manuell persönliche Daten in Form von z.B. einer Excel Ess-Liste oder einer Schimpfwörterbox. Im Jahr 2006 widmete sich Harrison einem ambitionierteren Projekt, Timeless6, einer grossen Tafel, die alle Aktivitäten Harrisons innerhalb von vier Wochen grafisch festhält. Heute befasst sich Harrison mit politischen und ökonomischen Daten, welche sie, z.B. bei dem Projekt A Brief History of Privatisation mit Massagestühlen oder bei The History of Financial Crisis mit Popcorn, humorvoll und provokativ in Szene setzte.
JAMIE ALLEN (Basel/Kopenhagen) und MORITZ GREINER-PETTER (Basel) demonstrierten ihre Arbeit mit Daten im Rahmen ihrer ebenfalls humorvollen Performance Lecture Bread and Roses and Data. Die inszenierte Analogie von immaterieller Arbeit zur Arbeiterbewegung Bread and Roses erinnerte an Zeiten, in denen der Kampf um höhere Löhne (Brot) und bessere Arbeitsbedingungen (Roses) einen höheren Stellenwert besass, und reflektierte diese auf heutige immaterielle Arbeitskonditionen. Fragen nach den Konditionen digitaler Arbeit, nach dem Wert und dem Eigentum immaterieller Arbeit und ob Designer, Künstler, Denker nicht auch nach »Rosen« fragen sollten, wurden reflektiert und zur Diskussion gestellt.
NICOLAS NOVA (Genf) stellte einen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Kreolisierung und digitalen Medienpraktiken her. Dabei bezog er sich auf generative Design- und Kunstprojekte, die durch vorprogrammierte Interfaces zu neuen Datenmischungen und unvorhersehbaren Narrationen führen. Daten, so Nova, seien kulturelle Elemente, die durch ihre Kreuzung zu neuen Ergebnissen, zu neuen Kulturen führten. Zwei Beispiele seiner präsentierten Projekte waren Generated Detective, ein Krimi in Form einer Graphic Novel, die anhand vorbestimmter Parameter Bilder und Texte zusammenträgt, und Listen to Wikipedia, einer Webseite, die anhand programmierter Soundeffekte auf Bearbeitungsaktivitäten von Wikipedia reagiert.
Rückblickend lässt sich ergänzen, dass die Kombination aus theoretischen, künstlerischen und performativen Beiträgen, aus Wissenschaft, Kunst und Design zu verschiedenen und hauptsächlich kritischen Perspektiven auf das Phänomen Big Data und dessen Auswirkung auf Kultur und Gesellschaft führte. Die parallel laufende Ausstellung Poetics and Politics of Data im Haus der elektronischen Künste Basel (HeK), in deren Rahmen die Konferenz ins Leben gerufen wurde, ergänzte die Veranstaltung zusätzlich um weitere künstlerische und kritische Beiträge zum Thema.
In einem nächsten Schritt wäre zu überlegen, inwiefern der Dialog um Big Data durch disziplinübergreifende Fragestellungen erweitert werden könnte. Was könnten z.B. Kognitions- und ComputerwissenschaftlerInnen zu dem hier diskutierten Material beitragen? Und ist in diesem Kontext nicht auch ein Diskurs zwischen KritikerInnen und affirmativen ExpertInnen notwendig, wie z.B. KunsthistorikerInnen und UnternehmerInnen?
Kritisch ist zu bemerken, dass die Diskussionsbeteiligung überwiegend von TheoretikerInnen und WissenschaftlerInnen ausging. Hier stellt sich die Frage nach einer durch Expertokratie erzeugten gruppendynamischen Hierarchie und wie damit in Zukunft umgegangen werden kann – genauso aber auch nach der Konfrontationsbereitschaft jener PraktikerInnen, die im klassischen Sinne an den hier kritisierten Schnittstellen arbeiten. Resümierend machte die Veranstaltung deutlich, und an dieser Stelle kann der von Miyazaki erwähnte Perspektivwechsel von digitalen Infrastrukturen auf sensible Ökosysteme erneut hervorgehoben werden, dass ein Umdenken im Umgang mit sozialen und kulturellen Konditionen im Rahmen von Big Data und ein fortlaufender Dialog notwendig bleibt.
Konferenzübersicht
Freitag, 3. Juli 2015
Claudia Mareis (Basel), Sabine Himmelsbach (Basel): Welcome & Introduction
Session 1 / Moderation: Johannes Bruder (Basel)
Ramón Reichert (Wien): Big Data. Der digitale Wandel von Gesellschaft, Kultur und Ökonomie
Sabine Niederer (Amsterdam): Digital Methods and the Technicity of Web Content
Session 2 / Moderation: Christiane Heibach (Basel/Konstanz)
Jutta Weber (Paderborn): 'a certain anticipatory readiness about the world'. Big Data als (Selbst-)Überwachung
Jamie Allen (Basel/Kopenhagen) mit Moritz Greiner-Petter (Basel): Bread and Roses and Data
Keynote / Moderation: Claudia Mareis (Basel)
Lev Manovich (New York): Big Data as an artistic and historical tool
Samstag, 4. Juli 2015
Session 3 / Moderation Leonie Häsler (Basel)
Felix Stalder (Zürich): Politik der Daten: Zwischen Post-Demokratie und Commons
Roberto Simanowski (Hong Kong): Vom Blick der Kunst auf ihr Publikum, ein Beispiel für den Umbau der Gesellschaft im Kontext des Data Mining
Ellie Harrison (Glasgow): Confessions of a Recovering Data Collector
Session 4 / Moderation Felix Gerloff (Basel/Berlin)
Orit Halpern (New York): Beautiful Data: Clouds, Crowds, and Cybernetics
Nicolas Nova (Genf): Adventures in Algorithmic Cultures
Shintaro Miyazaki (Basel): Ping Echo Request: Some Historical Remarks on Data Analysis
Claudia Mareis (Basel) & Sabine Himmelsbach (Basel): Wrap-Up
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Anmerkungen
1 Vgl. Evelyn Runge: Rezension zu: Reichert, Ramón (Hrsg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie. Bielefeld 2014, in: H-Soz-Kult, 25.02.2015,
2 Vgl. Orit Halpern, Beautiful Data, A History of Vision und Reason since 1945, Duke University Press (2015), S. 199 – 219.
3 Vgl. Digital Methods Summer School 2015, https://wiki.digitalmethods.net/Dmi/SummerSchool2015 (Stand 21.07.2015)
4 Vgl. Zusammenfassung Adorno: Ästhetische Theorie, online: Geschichte und Theorie der Bildmedien, Bahuhaus-Universität Weimar, https://www.uni-weimar.de/medien/bildmedien/lehre/ss2007/Zusammenfassun… (Stand 22.07.2015)
5 Für mehr Informationen über das Thema Commons siehe: „Es gibt keine Alternative“ – oder doch? Commons wer-den zu Laboren der gesellschaftlichen Erneuerung, online: Berliner Gazette, 27.4.2015 http://berlinergazette.de/systemkrise-commons-labore-der-innovation (Stand 23.07.2015)
6 Das Projekt Timless ist bis zum 30.08.2015 in der Ausstellung Poetics & Politics of Data im Haus der elektronischen Künste Basel (HeK) zu sehen.