Der Hunger hat die Menschheit während ihrer gesamten Geschichte verfolgt. Er hat seine Opfer genauso heimgesucht wie Kriege und tödlich verlaufende Krankheiten. Gerade die räumliche Ausdehnung und die Intensität des Hungers lassen sich in den zahlreichen Aufzeichnungen der Zeitgenossen aber nur schwer abschätzen. Auch in den Jahren 1816/17 haben nicht alle Regionen Westeuropas gleich stark unter der letzten grossen Krise des type ancien gelitten.
Vor diesem Hintergrund behandelt die Lizentiatsarbeit die Auswirkungen der Hungerkrise auf die Alte Pfarrei Stans. Im Zentrum stehen dabei die Verwundbarkeit der Gesellschaft in der Alten Pfarrei durch solche Krisen und die Pufferstrategien der verschiedenen Akteure. Betrachtet wird der Hunger aus der Perspektive der Zugangsrechte zum Markt.
Nidwalden war im frühen 19. Jahrhundert in den Sog der Moderne geraten. Der Zerfall der alten Eidgenossenschaft, die blutige Besetzung durch die Franzosen am 9. September 1798, die tiefen sozioökonomischen Einschnitte und die nur langsam verheilenden psychischen Wunden dieses Krieges, die Spannungen in der Bevölkerung vor dem Beitritt zur wiedererrichteten Eidgenossenschaft 1815, die beinahe in einen Bürgerkrieg mündeten, und der Verlust von Engelberg an Obwalden 1816 setzten dem Kanton zu. Die Obrigkeit war nach den Ereignissen von 1815 zerstritten, die finanziellen Ressourcen erschöpft, die Erschliessung bescheiden und der Verwaltungsapparat klein.
Die Wirtschaft verschaffte den grösseren Bauern im ausgehenden 18. Jahrhundert einen gewissen Wohlstand. Strukturelle Schwächen, Kapitalmangel und die Verschuldung der Güter konservierten aber die rückständigen Strukturen der wenig technikintensiven Vieh- und Graswirtschaft. Der Ackerbau war im Spätmittelalter aus Nidwalden verschwunden. Auf risikovermindernde Pufferstrategien wie den Anbau von verschiedenen Getreidesorten konnten die Landleute danach nicht mehr zurückgreifen; sie waren auf krisenüberbrückende Strategien angewiesen.
Wirksame Pufferstrategien, um die Krise zu überbrücken, besassen die Menschen in Nidwalden kaum. Sie schränkten ihren Konsum ein, hofften auf die private Wohltätigkeit, bettelten, beteten, stahlen und assen schliesslich Kleie, Gras, Schnecken, stumpfblättrigen Ampfer und gesiedete Nesseln. Viele Haushalte sanken vorübergehend in die Bedürftigkeit ab und waren auf die informelle Familien- und Nachbarschaftshilfe angewiesen. Die Armenverwaltung in der Alten Pfarrei Stans war der wachsenden Zahl bedürftiger Menschen nicht gewachsen. Ihr fehlten sowohl die Ressourcen, um die Leistungen aufrecht zu erhalten als auch das Wissen, um die wenigen Mittel wirkungsvoller einsetzen zu können. Der Gedanke, eine systematische Sozialpolitik betreiben zu müssen, war ihren Mitgliedern fremd. Sie waren vielmehr darum bemüht, die Ausgaben zu stabilisieren und den „schlechten Risiken“ den Zugang zur Armenfürsorge zu versperren. Auch wenn Nidwalden 1811 als einer der ersten Kantone ein Armengesetz geschaffen hatte, waren die Armenverwaltungen nicht in der Lage, die Folgen des Hungers zu lindern.
Die Kantonsregierung war durch die Hungerkrise genauso überfordert wie die Armenverwaltungen. Sie griff zwar auf den althergebrachten Teuerungskanon zurück, handelte aber nicht so energisch wie in den Krisen zuvor. Die Schwäche des Staates nach den Konflikten von 1798 und 1815 akzentuierte sich in der Krise. Nicht zuletzt deshalb setzte die Obrigkeit vor allem auf kostenneutrale Massnahmen zur Sicherung der konsumierbaren Lebensmittel, die Stabilisierung der Preise und die Senkung des Verbrauchs.
In Stans gründete Landammann Franz Niklaus Zelger zusammen mit den anderen Vorgesetzten Herren der Gemeinde und der Geistlichkeit eine Hilfsgesellschaft, die sich für die Wiedereinführung des Ackerbaus einsetzte. Der Kartoffelanbau in der Stanser Ebene war sowohl ein krisenüberbrückendes Arbeitsbeschaffungsprogramm als auch ein Mittel, um die Verwundbarkeit des Systems durch Subsistenzkrisen zu verringern. Als im Jahr 1819 nicht nur die Kartoffelpreise, sondern auch die Absatzchancen auf dem Markt sanken, wurde der Ackerbau aber wieder weitestgehend eingestellt.
Auch wenn die Rahmenbedingungen zur Bewältigung einer Hungerkrise nicht gut waren, die staatlichen Institutionen rasch an ihre Grenzen kamen, die Pufferstrategien keine langfristige Wirkung hatten und vieles von der Initiative einzelner Personen abhing, litt die Alte Pfarrei Stans nicht so stark unter der Krise wie andere Regionen der Schweiz. Subsistenzkrisen vermochten das Bevölkerungswachstum zwischen 1769 und 1836 kaum zu verzögern und hinterliessen keine nachhaltigen Spuren.