Von Zugpferden und Mitläufern. Die Rolle der Berner Oberländer Regierungsstatthalter beim Eisenbahnbau zwischen 1860 und 1914

Nom de l'auteur
Benjamin
Steffen
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2004/2005
Abstract

In seiner Dissertation aus dem Jahr 2003 bescheinigt Christophe Koller den Regierungsstatthaltern des Berner Juras in der ökonomischen Modernisierung eine unbestrittene Führungsrolle. Koller befasst sich in „L’industrialisation et l’Etat au pays de l’horlogerie“ mit der Funktion des Staates in der Entwicklung der Uhrenindustrie und schreibt, zwischen 1846 und 1875 seien die Rollen der Uhren-Industriellen und des Regierungsstatthalters fast verschmolzen. Wie umfassend war diese Hauptrolle der Regierungsstatthalter bezüglich Wirtschaftsförderung? Diese Frage sollte im Rahmen einer Auftragsarbeit zum 200-Jahr-Jubiläum der Berner Regierungsstatthalterämter 2003 am Beispiel der Oberländer Amtsträger und des Eisenbahnbaus geklärt werden (Periode: 1860–1914). Waren sie ebenfalls Mitglied der Verwaltungsräte von Eisenbahn-Gesellschaften oder an der Finanzierung von Projekten massgeblich beteiligt? Welche Motive könnten die Regierungsstatthalter zur Mitarbeit bewogen haben?

 

Der Eroberungszug der Eisenbahn war in der „Belle Epoque“ zwischen 1880 und 1914 unaufhaltsam und ging mit einem starken Aufschwung des Tourismus einher. Für das Oberland erwies sich der Tourismus als wirkungsvolles Mittel zur Ankurbelung der Wirtschaft. In den Amtsberichten, die es bis 1896 jährlich zu verfassen galt, nahmen die Regierungsstatthalter mehr oder minder ausführlich zum Eisenbahnbau Stellung. Die Mehrzahl war sich der positiven Folgen, welche der Bahnbau auf die wirtschaftlichen Zustände ausüben könnte, bewusst. Und dennoch: Keiner äusserte in den Amtsberichten Gedanken, die ihn als Visionär erscheinen lassen würden – keiner prophezeite, vom Fremdenverkehr beglückte Regionen könnten sich zu Innovationsräumen entwickeln oder vernachlässigte Gegenden in die Bedeutungslosigkeit absinken. Kurz: Die Regierungsstatthalter blieben mit den Überlegungen eher oberflächlich. Aus den Amtsberichten lässt sich aber ein Realitätssinn der Schreibenden ablesen. Die Regierungsstatthalter verhehlten zwar in der Regel die Freude über allfällige Fortschritte des Schienennetzes keineswegs, wussten aber allzu gut, wann die finanzielle Lage des Kantons Sparsamkeit gebot. Wurde in einem Bezirk eine Bahnlinie eröffnet, löste dies in einem anderen Bezirk beim Regierungsstatthalter nicht Aufbruchstimmung aus – weil er die Möglichkeiten in seiner Gegend sehr wohl einzuschätzen wusste. Oder anders formuliert: Die Regierungsstatthalter gingen mit dem Lauf der Zeit. Bestand eine Chance für den Bau einer Bahnstrecke, äusserten sie Hoffnung – war das Geld knapp, gaben sie sich einsichtig.

 

Eine ähnlich dominante Rolle bei der Wirtschaftsförderung wie ihre jurassischen Amtskollegen übten die Oberländer Regierungsstatthalter mitnichten aus – von einer Verschmelzung der Rollen von Unternehmern und Regierungsvertretern kann keine Rede sein. Mit Karl Immer (Oberhasli), Johann Gottlieb Aellen (Saanen), Jakob Ritschard (Interlaken) und Johann Jakob Rebmann (Niedersimmental) versuchten nur gerade vier der 24 von der Untersuchung betroffenen Personen in bedeutsamer Manier Einfluss auf die ökonomische Modernisierung zu nehmen – doch ihre Bestrebungen sind allesamt einzuschränken. Rebmann machte den Einfluss nicht mehr als Regierungsstatthalter (1879–1885), sondern als Nationalrat (1883– 1919) geltend; Karl Immer (1883–1897) warb für Aktienzeichnungen für die Brünigbahn – als Betreiber des Hotels „Engstlenalp“ vertrat er aber vor allem Eigeninteressen; Johann Gottlieb Aellen (1876–1926) handelte im Auftrag von Bahnen als Expropriationskommissar; Ritschard (1884–1894) schliesslich war von einem – privaten – Motiv geleitet, das für einen Regierungsstatthalter sonderbar anmutet: Er befürwortete den Bahnbau nur in seiner näheren Heimat (Interlaken), nicht aber die weitere Erschliessung nach Grindelwald und Lauterbrunnen, welche die touristische Vormachtstellung des Bödeli zu gefährden drohte.

 

Bei den restlichen Oberländer Regierungsstatthaltern erstaunt die Diskrepanz zwischen dem Befürworten des Bahnbaus und entsprechendem Handeln. Sie mag freilich auch in der Quellenlage begründet sein respektive der Schwierigkeit, neben der Meinung der Regierungsstatthalter (anhand der Amtsberichte) auch ihre Versuche zur Beeinflussung gewisser Strömungen darzustellen. Die Bedeutung informeller Kontakte mit gewichtigen Entscheidungsträgern ist nicht zu unterschätzen. Überdies könnten im Volk geachtete Regierungsstatthalter versucht haben, die Bevölkerung für neue Projekte zu sensibilisieren.

 

Dennoch: Die fehlende Profilierung ist kennzeichnend für die Regierungsstatthalter. Markante Persönlichkeiten bildeten sich aus den Regierungsstatthaltern selten heraus, als Sprungbrett für höhere politische Weihen erwies sich das Amt kaum – was nicht zuletzt eine Folge der Verfassung von 1831 und deren Rahmenbedingungen gewesen sein dürfte, wonach die Regierungsvertreter schlicht die Vollzieher der Gesetze sein sollten. Das zunehmend engere Gesetzeskorsett bezüglich Handlungsspielraum erfüllte seinen Zweck.

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