Die Lizentiatsarbeit wirft einen genaueren Blick auf das Flüchtlingswesen in der regenerierten Schweiz des Vormärz. Der Fokus ist aber nicht auf die Flüchtlinge an sich gerichtet, sondern auf deren Beobachtung durch Spitzel.
Durch die zentrale Lage in Europa und eine (kantonal unterschiedliche) liberal-demokratische Staatsverfassung wurde die Schweiz für viele gescheiterte Revolutionäre, Nationalisten, Demokraten, Republikaner, Sozialisten oder sonst wie in Ungnade gefallene Flüchtlinge eines der Hauptziele ihrer Flucht. Diese Oppositionellen ruhten allerdings meist nicht, sondern versuchten weiterhin, vom Asylland aus, ihre Sache in der Heimat voranzutreiben. Selten ging es zwar so weit, dass ein bewaffnetes Heer in Marsch gesetzt wurde, doch kam auch das vor (Savoyerzug). Diese Agitation weckte die Missgunst und das Misstrauen unter den ausländischen Machthabern, insbesondere in Wien, Berlin und allgemein im Deutschen Bund, je nach Betroffenheit auch weiterer Königshäuser. Die Reaktion war insbesondere im deutschsprachigen Raum, Spitzel zu entsenden, die regelmässig in die Zentren der Macht zu berichten hatten. Diese Berichte sollten mit dieser Lizentiatsarbeit umfassend ausgewertet werden. Dies wurde durch die jegliche sinnvolle Forschung vereitelnden Bestimmungen des Haus-, Hofund Staatsarchives Wien, in dem die Akten lagern, leider verhindert. Glücklicherweise finden sich einige Abschriften – allerdings bei weitem nicht alle – im Bundesarchiv Bern, zudem existieren zwei Quelleneditionen, die allerdings ebenso wenig den vollständigen Quellenfundus beinhalten.
So musste der Fokus der Arbeit etwas verschoben werden und richtet sich nicht nur auf die Spitzelberichte, sondern daneben auch auf eine Geschichte der Spitzelei, der Spionage und des Gerüchtewesens. Die ursprüngliche Fragestellung wird im zweiten Teil in einer quantitativen Untersuchung abgehandelt.
Ergebnis des ersten Teils ist eine Typologie verschiedenster Arten von Spitzelei, Lockspitzelei, Spionage, Gerüchte, Devianz, der Denunziation und anderer Arten der Informationsbeschaffung. Anhand verschiedenster Beispiele werden Kategorien gebildet und die Motivation zur geheimpolizeilichen Aktivität durch beide Seiten (Auftraggeber und Auftragnehmer) ergründet. In der quantitativen Auswertung der (verfügbaren) Spitzelberichte wurden insgesamt 2398 Einzelinformationen aus 322 Berichten in 23 Kategorien eingeteilt. Diese geben einen Überblick darüber, wie die Flüchtlinge, die Schweiz und ihre Regierungen aus der Sicht der Spitzel in den Machtzentren dargestellt wurden. Es wird gezeigt, dass das vermeintliche Flüchtlingsparadies Schweiz den Flüchtlingen gegenüber keineswegs immer freundlich gesinnt war. Viele Informationen schildern ablehnende Reaktionen der offiziellen Schweiz, viele auch die entsprechende Reaktion der unliebsamen Gäste, nämlich deren Abreise oder Unmutsäusserungen. Der durch die Literatur nahegelegte Schluss, dass die Eidgenossenschaft in ihrer Haltung erst dann kritischer wurde als der ausländische Druck zunahm, kann nicht bestätigt werden. Vielmehr überwiegt die Ablehnung der Ausländer in der Periode 1833-1848 und unterliegt kaum Schwankungen innerhalb verschiedener Zeitperioden.
Bestätigt wird hingegen der ausländische Vorwurf, wonach von der Schweiz aus Aktivitäten zum Sturz der Machthaber unternommen wurden. Nicht nur der bereits erwähnte Savoyerzug, sondern eine ganze Reihe weiterer Vorkommnisse zeugen von diesen Umtrieben. Vieles bleibt jedoch im Dunkeln, wird in Berichten angedeutet, in anderen dementiert und rückblickend ist nicht viel passiert, das bis heute nachwirken würde. Als „Glücksfall“ für das Aufdecken solcher Umtriebe erwies sich der Mord am Studenten Ludwig Lessing, ein preussischer „Flüchtling“, der für Preussen Berichte aus dem innersten Zirkel eines revolutionären Klubs berichtete. Der des Mordes verdächtigte Baron von Eyb stand ebenfalls auf der Lohnliste der Mainzer Central Polizei, die zentrale Stelle für Spitzelei im Deutschen Bund. So kamen im Laufe der Ermittlungen immer mehr Details aus dem innersten Zirkel der Verschwörung ans Tageslicht, vieles blieb aber auch im Obskuren, der Mordfall ist beispielsweise bis heute ungelöst geblieben.
Vertrauliches aus der „cloaca magna“. Wahrnehmung der Schweiz durch das Ausland im Vormärz unter Auswertung von Spitzelberichten
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2009/2010
Abstract