Ursachen für den Ölpreiszerfall ab 1957/58. Veränderungen im Erdölmarkt der Nachkriegszeit und deren Rezeption in der westeuropäischen Politik und Wirtschaft

Nom de l'auteur
Christian
Scheidegger Fung
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2002/2003
Abstract

Bald nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine gewaltige Ausdehnung des Welterdölmarktes, der mehrheitlich von sieben internationalen Ölgesellschaften, den Majors, kontrolliert wurde. Der Energiebedarf der industrialisierten Welt stieg rasch an, und besonders in Europa wurde befürchtet, ein Energiemangel könnte den Wiederaufbau bremsen. Die europäische Kohleindustrie erreichte zwar 1952 wieder das Produktionsniveau von 1938, vermochte aber die Nachfrage nicht zu decken. Als in genügend grossen Mengen verfügbare Alternative bot sich – neben dem Import von Kohle vor allem aus den USA – Erdöl an. Die Entdeckung neuer Reserven vornehmlich im Mittleren Osten erlaubte der westlichen Ölindustrie die rasche Entwicklung riesiger Produktionskapazitäten. Auch die Sowjetunion steigerte in der Nachkriegszeit ihre Ölproduktion mit zweistelligen Wachstumsraten und setzte ab 1954 steigende Mengen Erdöl auf den westlichen Märkten ab.

 

Nach der Suezkrise 1956/57 zerfielen die Preise für Rohöl und Ölprodukte ausserhalb der USA und verharrten während etwa fünfzehn Jahren trotz allgemeiner Lohn- und Preissteigerungen auf einem tiefen Niveau. Konkret heisst dies: 1950 war ein Liter Benzin 20% teurer als ein Kilo Brot, 1970 kostete aber das Brot fast doppelt so viel wie ein Liter Benzin. Diese Entwicklung widersprach den Erwartungen der Zeitgenossen: Drei Faktoren, die Marktkontrolle der Majors, die rasant steigende Nachfrage nach Öl und die Erschöpfbarkeit des Rohstoffes sprachen für stabile oder sogar steigende Preise. Weshalb wurden Rohöl und Ölprodukte nach 1957 trotzdem immer billiger? Viele westliche Ölfachleute und Regierungsvertreter machten Ende der 1950er Jahre die wachsenden sowjetischen Ölexporte für diese Entwicklung verantwortlich.

 

Die europäische Kohle vermochte sich im Wettbewerb mit den importierten Energieträgern kaum mehr zu behaupten und geriet ab 1958 in eine Krise, von der sie sich während Jahren nicht mehr erholen sollte. Der Strukturwandel im Energiemarkt hatte Europa voll erfasst.

 

Zunächst werden in der Lizentiatsarbeit die Strukturen des Welterdölmarktes und das in der Nachkriegszeit vorherrschende Preissystem aufgearbeitet. Die in der Literatur und den zeitgenössischen Fachzeitschriften genannten Gründe für den Preiszerfall im Erdölmarkt ab den Jahren 1957/58 werden zusammengetragen und auf ihre Relevanz geprüft. Weiter wird die in diese Zeit fallende Entstehung des Spotmarktes für Rohöl auf seine preissenkende Wirkung hin untersucht. Die Frage wird geklärt, ob und allenfalls in welchem Ausmass die Majors die Kontrolle über den Weltölmarkt verloren haben.

 

Es wird unter anderem analysiert, welche Rolle die sowjetischen Exporte bei dieser Entwicklung tatsächlich spielten, wie sich die sowjetischen Ölexporte in den Westen entwickelten, ob die sowjetischen Erdölexporte in den Westen als (eine) Ursache für die sinkenden Ölpreise bezeichnet werden können, und wenn ja, in welchem Ausmass sie dafür verantwortlich waren.

 

Weiter interessiert, wie die Veränderungen im Ölmarkt von der europäischen Politik und Wirtschaft rezipiert wurden. Dazu muss die energiepolitische Diskussion in den Jahren 1952–58 untersucht werden. Seit 1952 wurden von verschiedenen europäischen Institutionen eine Vielzahl von Energiemarktanalysen und Prognosen erarbeitet. Welche Erwartungen wurden darin geäussert, und wie veränderten sich diese von 1952 bis 1958? Die Entwicklung wurde zum Teil vorausgesehen und wahrgenommen, weshalb wurde aber bis 1958 immer wieder von einer „Energielücke“ gesprochen? Wurde der Begriff allenfalls zur Förderung der Nuklearenergie instrumentalisiert?

 

Die relative Billigkeit des Erdöls wird mitunter verantwortlich gemacht für die Entwicklungen, die in den westlichen Industriestaaten zum Übergang von der Industriegesellschaft zur Konsumgesellschaft geführt haben. Ziel der Arbeit ist es, die Gründe für die langfristig sinkenden Erdölpreise zu verstehen und zu erklären, und damit einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen des 1950er Syndroms zu leisten.

 

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass es politische Entscheide der Erdöl exportierenden (Massnahmen zur Steigerung der Exporterlöse) und der Öl konsumierenden Staaten (Massnahmen zur Beschaffung von günstigem Erdöl zwecks Einsparung von Devisen und bewusste Umstellung der Energieversorgung von Kohle auf Öl) sowie die neuen Marktbedingungen (Vervielfachung der Marktteilnehmer auf allen Produktionsebenen, Überproduktion und Verlust der Kontrolle durch das Oligopol der Majors) waren, die eine langfristig sinkende Preistendenz auslösten – ein Prozess, der durch Importrestriktionen der USA (Schutz der eigenen Ölindustrie vor billigem Importöl) von 1959 nachhaltig verstärkt wurde. Die sowjetischen Ölexporte in westliche Industriestaaten waren 1958 zu gering, um den Markt zu beeinflussen. Die Untersuchung der energiepolitischen Diskussion in Europa ergab ferner, dass der Strukturwandel im Energiemarkt bereits zu Beginn der 1950er Jahre und die Expansion im Ölmarkt im Verlauf des Jahrzehnts wahrgenommen wurden, dass aber die Preiswirksamkeit der Veränderungen in der Erdölindustrie bis Anfang 1958 aus verschiedenen Gründen nicht erkannt wurde. Damit ist auch begründet, weshalb die plötzliche Beschleunigung des Strukturwandels für alle Akteurgruppen überraschend kam.

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