Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2020/2021
Abstract
Als ein Hochwasser 1987 den Kanton Uri über weite Strecken verwüstete, entstand die Idee, die A2 im Notfall als Entlastungskanal für die Reuss zu nutzen. Es wurden daher Entlastungsanlagen via die Autobahn erstellt, welche Anfang Oktober 2020 erstmals benötigt wurden. Generell hat der Hochwasserschutz im Kanton Uri in den letzten 50 Jahren eine grosse Entwicklung durchgemacht – baulich, aber vor allem ideologisch und konzeptionell.
Der Kanton Uri ist im Prinzip ein Talsystem. Es gibt lediglich zwei nennenswerte Flächen: die Talebene von Urseren und vor allem den Urner Talboden, d. h. das untere Urner Reusstal. In diesem liegen folglich die grössten Gemeinden des Kantons sowie die mit Abstand meisten Industrie- und Gewerbebetriebe. Das wirtschaftliche und soziale Leben in Uri konzentriert sich darum weitestgehend auf diesen Raum zwischen Amsteg und dem Urnersee. Das bringt eine sehr starke Besiedelung und eine entsprechend hohe Dichte an Infrastrukturen mit sich, zu welchen mit der NEAT und der A2 unter anderem die beiden wichtigsten Transitverkehrsträger in der Schweiz zählen. Es ist unumgänglich, dass sich diese Infrastrukturen den engen Raum mit den Gewässern teilen, die das Talsystem entstehen liessen und noch immer formen. Dieser natürliche Formungsprozess vollzieht sich in der Regel allerdings schubartig durch extreme Naturereignisse.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Hochwasserschutz an der Reuss und ihren Seitenbächen eines der wichtigsten politischen Themen im Kanton Uri ist. In Sachen Hochwasserschutz hat der Bergkanton Pioniercharakter. Insbesondere die beiden Hochwasserkatastrophen von 1977 und 1987 zogen in Uri ein Umdenken nach sich. Das Wasser wurde nicht mehr einfach abgewehrt, sondern ihm vor allem wieder mehr Raum zugestanden. Zudem sollten Gewässer fortan nicht mehr einzeln, sondern integral, d. h. als Teil von Gewässer-Systemen, betrachtet werden. Die neue Hochwasserschutzphilosophie differenziert zwischen verschiedenen Schutzzielen für unterschiedliche Objektkategorien und vollzieht damit eine Priorisierung. Aber nicht nur in Uri, sondern in der ganzen Schweiz kam es zu diesem Wandel in der Hochwasserschutzphilosophie, der nicht zuletzt eng mit einem immer stärkeren ökologischen Nachhaltigkeitsgedanken verbunden war.
Aufgrund der knappen Platzverhältnisse im Reusstal können Infrastrukturen wie die Autobahn nicht einfach aus dem Gefahrenbereich hinausverlegt werden. Die Masterarbeit beschäftigt sich daher mit der Frage, wie sich Hochwasserschutz und Transitverkehr im Kanton Uri seit dem Autobahnbau gegenseitig beeinflussen. Das Schwergewicht bei der Untersuchung bildet die A2, aber auch auf andere Verkehrsträger und sonstige Infrastrukturen wird eingegangen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema ergibt, dass der Urner Hochwasserschutz nicht nur topografisch/ geografisch, sondern auch auf zahlreichen weiteren Ebenen integral wurde, was dazu führte, dass Verkehrsträger wie die A2 und der NEAT-Bahndamm im Überschwemmungsfall eine aktive Rolle im Hochwasserschutz einnehmen und nicht bloss selbst gegen Hochwasser geschützt werden. Mit dieser infrastrukturellen Integration wurde der Hochwasserschutz zugleich auch in anderen Bereichen wie Politik, Recht, Finanzierung oder Wissenschaft integraler betrachtet.
Als Recherchegrundlage diente ein Interview mit Franz Steinegger, der landesweit vor allem als Alt-Nationalrat und Präsident der FDP Schweiz sowie als «Katastrophen-Franz» bekannt ist. Franz Steinegger war Vorsteher des KAFUR, des kantonalen Führungsstabs Uri, während der drei Hochwasserereignissen in den Jahren 1977, 1987 und 2005. Des Weiteren wurden primär gedruckte Quellen, Unterlagen aus dem Urner Staatsarchiv und solche, die das Amt für Tiefbau Uri zur Verfügung stellte, verwendet. Besonders erwähnenswert sind die Schlussberichte des KAFUR und des Amts für Tiefbau zu den drei erwähnten Hochwasserereignissen, aber auch die neuen Hochwasserschutzkonzepte und -richtlinien, die jeweils darauf folgten.
In Anlehnung an einen mikrohistorischen Ansatz stellt die Arbeit den Urner Hochwasserschutz im Zusammenhang mit der A2 in den Kontext des schweizweiten Paradigmenwechsels im Hochwasserschutz. Die Arbeit ordnet sich dabei auch in die Infrastrukturgeschichte ein, insbesondere im Zusammenhang mit der Ausarbeitung von differenzierten Schutzzielen für verschiedene Objektkategorien sowie der multifunktionalen Nutzung von Verkehrsträgern. Denn das untere Urner Reusstal ist voller kritischer Infrastrukturen, solcher also, die entweder an sich systemrelevant sind (wie beispielsweise die A2) oder von deren Beschädigung systemrelevante Gefahren ausgehen. Durch die NEAT, die geplante zweite Gotthardröhre sowie lokale Ausbauprojekte im Verkehrsbereich ist zudem davon auszugehen, dass das Risikopotenzial durch Naturgefahren entlang der Transitrouten künftig eher steigen als sinken wird. Moderner Hochwasserschutz ist daher dynamisch und niemals «fertig».